Ein Herz voll Erbarmen


Die Mutter hält das Kind auf ihrem Schoß, es liegt in ihrer Armbeuge. Mutter und Kind schauen sich in die Augen. Das Kind greift nach dem Handgelenk der Mutter und saugt an ihrer Brust.
Die Freundinnen sind zu Besuch. Sie stehen und sitzen neben der Mutter und ihrem Kind. Die eine von ihnen hält den Brei bereit.
Sie staunen unentwegt das Kind an. Es muss glücklich sein, so zufrieden wie es da liegt. Die Mutter muss glücklich sein über das Geschenk des Lebens auf ihrem Schoß.
Lange hat sie auf dieses Kind gewartet. Jahr für Jahr war alle vier Wochen ihr Traum zerronnen, dass neues Leben in ihr wachsen könnte.
Was hätte sie darum gegeben, endlich mit dem Warten aufhören zu können. Aber der Kopf konnte dem Herz die Hoffnung nicht ausreden, die immer wieder von neuem enttäuscht wurde.
Mit der Zeit stumpfte ihr Herz ab. Der Schmerz wird schwächer, wenn er einen ständig begleitet. Aber das Fünkchen Hoffnung glomm weiter. Sie mochte und konnte es nicht austreten. Vielleicht eines Tages …

Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen.

Der Vater steht Mutter und Kind gegenüber. Er hält Abstand zu dem Wunder des neues Lebens. Wunder sind nicht nur schön. Sie erschrecken auch, wenn sie einen treffen.
Dass ihnen eines geschehen könnte, damit hatte er nicht gerechnet und darauf hatte er auch nicht gehofft.
All die Jahre hatte er nach der Schuld gesucht. Woran es liegen könnte, dass das Kind ausbleibt. An ihr? An ihm? An einem blinden Schicksal oder einem fernen Gott?
Als das Wunder sich ankündigte, verschlug es ihm die Sprache. Er fand keine Worte für sein Glück. Er begriff das als Strafe.
Zuvor hatte er oft genug verbittert die Zeitläufte beklagt und mit ein, zwei Sätzen die Schwächen seiner Mitmenschen bloßgestellt.
Als endlich sein Herz aus lauter Vorfreude auf und ab hüpfte, konnte das Glück nicht aus ihm heraus. Eingesperrt war es in ihm und brachte ihn fast zum Platzen.

Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen.

So heißt das Kind im Schoß der Mutter. Auf dem in der Adventszeit geschlossenen Altar im Friesendom ist es zu sehen. Das Gemälde auf der rechten Tafel zeigt es.
Mit der Mutter und dem Vater. Den Freundinnen. Der Verwandtschaft. Sie alle sind gekommen, weil sie Gott um seinen Segen für das Kind bitten wollen. Und um dem Kind seinen Namen zu geben.
Zacharias könnte es heißen. So wie auch der Vater heißt. Aber die Mutter will das nicht und auch nicht der Vater. Sie nennt einen anderen Namen, er schreibt ihn auf.
Johannes soll das Kind heißen. Und der Name Johannes bedeutet: Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen.
Das Kind hat seinen Namen. Und Zacharias, der Vater, findet die Sprache wieder und kann sein Glück in Worte fassen.

Zacharias begann wie ein Prophet zu reden:
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er ist seinem Volk zu Hilfe gekommen und hat es befreit.“
(Lukasevangelium 1,67 – www.basisbibel.de.)

Zacharias wird Prophet.
Sein zum Stein gewordenes Herz wird weich. Wieder oder auch zum ersten Mal. Die Welt, andere Menschen können ihre Eindrücken auf seinem Herz hinterlassen.
Vorher hat er alles klar gesehen. Er sah, was Menschen fehlte zum Leben. Er sah die Armut, die sie fern hielt von dem, was das Leben verspricht. Er sah die Gebrechen und Krankheiten, die es ihnen schwer machte, das Leben aus eigener Kraft zu führen.
Er sah auch, was Menschen einander antaten. Er sah, wie sie miteinander stritten. Darum, wer Recht hat. Wer mehr bekommt. Wer das Sagen hat. Er sah, wie Menschen aufhörten, miteinander zu sprechen. Er sah, wie die einen sich auf Kosten der anderen bereicherten. Wie die anderen die einen ausgrenzten, mit Hass verfolgten.
All das sah er und wusste, dass es falsch war, am Leben vorbei ging, ihm zuwider lief. Aber es erreichte sein Herz nicht. Er zuckte die Schultern und sagte: So ist die Welt, so ist das Leben.

Jetzt wird Zacharias Prophet. Was er sieht, rührt an sein Herz. Es betrifft ihn. Was andere erleben, meint auch ihn.
Er spürt die Wut auf den reichen Händler, der von der Armut anderer reicher wird. Der ihnen Geld leiht, bis sie es ihm nicht mehr zurückzahlen können. Der sich dann ihr Land holt und ihr Haus, ihre Familie, ihre Freiheit.
Er spürt Mitleid mit dem blinden Bettler auf der Straße. Er bleibt vor ihm stehen, spricht ihn an, gibt sich ihm zu erkennen, hört seine Geschichte, behält seinen Namen, gibt ihm etwas, das ihm über den Tag hilft.
Er mag nicht mehr mit den Schultern zucken. Er will etwas tun, damit sich etwas ändert. Damit die Welt eine andere wird, ein wenig mehr so, wie Gott sie geschaffen hat.

Zacharias wird Prophet. Er sieht mit Gottes Augen auf die Welt.
Am Anfang, so hat Zacharias gelernt, am Anfang schaute sich Gott alles an, was er gemacht hatte, die ganze Erde, seine Menschen, und er sagte: Siehe es ist gut, sehr gut sogar.
Stolz war Gott auf das, was er geschaffen hat. Und verliebt in den Menschen, seinem Gegenüber. Am Anfang.
Der Zauber des Anfangs wich dem Schmerz darüber, was die Menschen sich antaten. Gegenseitig machten sie sich das Leben streitig. Als wäre es ihr Verdienst und nicht ein Geschenk.
Im Schmerz wuchs Zorn auf die Menschen, die das Geschenk einfach so wegwarfen und mit den Füßen traten. Mit einem grausamen Grinsen rissen sie ein, was er in viel mehr als sieben Tagen aufgebaut hatte.
Im Zorn glühte eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der Leben in seiner Fülle strahlte und funkelte.
Ein Paradies war sie einmal. Ein Paradies soll sie wieder werden. Mit Menschen, die das Leben lieben, sich die Hände reichen, ihm vertrauen. Eine Welt, die blüht und glänzt.
Die Sehnsucht wandelte sich in Erbarmen. Er, Gott selber, muss die Menschen retten vor sich selber, sie von dem erlösen, was sie der Welt und einander antun. Er muss einen Retter schicken.

Zacharias wird Prophet:
„Gott hat uns einen starken Retter gesandt, einen Nachkommen seines Dieners David – einen Retter, der uns befreit von unseren Feinden und aus der Gewalt derer, die uns hassen. Dann können wir ohne Angst Gott feiern – heilig und nach seinem Willen, in seiner Gegenwart, so lange wir leben.“
(Lukasevangelium 1,69.71.74b.75. -- www.basisbibel.de.)

Was Zacharias zum Prophet macht, ist eine Geburt. Er wartet mit Elisabeth jahrein, jahraus, dass sich neues Leben ankündigt. Er sieht, wie das neue Leben den Bauch seiner Frau weitet.
Er erlebt an ihrer Seite, wie das Kind unter Schmerzen in die Welt kommt. Er schaut jetzt auf sie, wie sie das Kind stillt und sie und das Kind ganz ineinander versunken sind.

„Du, mein Kind, wirst dem Herrn vorangehen und die Wege für ihn bereit machen. Du schenkst die Erkenntnis, dass der Herr retten will und die Schuld vergibt.“
(Lukasevangelium 1,76b.77. -- www.basisbibel.de.)

Zacharias sagt das zu Johannes und weiß in dem Augenblick, dass es schon wahr geworden ist.
Ihm hat die Geburt seines Sohnes bereits die Augen und das Herz geöffnet – für die Welt und für Gott und für das, was Gott mit der Welt und für den Menschen will.

Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen.

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