Hinter der Tür

Die Holztür öffnet sich schwer und langsam. Als wolle sie sagen: Achtung, du trittst über eine Schwelle zu einem anderen Raum.
Die Tür schließt sich hinter ihm. Mit einem Klicken fällt sie ins Schloss. Die Geräusche und das Licht des Tages bleiben draußen.
Er macht drei, vier Schritte nach vorn. Der Raum breitet sich vor ihm aus in seiner Breite und Höhe und Tiefe. Als sollte er die Ewigkeit fassen.
Am anderen Ende leuchtet der Altar mattgolden. Unendlich viele Schritt scheint es von hier bis dorthin. Das Gewölbe zieht den Blick nach oben. Knapp unter dem Himmel schließt es der Schlussstein, der die Spannung hält.
Seine Schritte verhallen in der Weite. Er lauscht in die Stille unzähliger Gebete, die in dem Raum schweben.

Jesaja schreibt:
In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel.
(Jesaja 6,1)

Da betrittst du eine Kirche und hast eigentlich nichts anderes vor, als sie dir einmal anzuschauen. So viel gibt es an dem Ort ja nun nicht zu sehen.
Dann stehst du in dem Raum und wunderst dich über dich: Was ist es, das dich so ergreift?
Bilder steigen in dir auf. Aus längst vergangenen Zeit kommen sie und von ganz anderen Orten. Doch sie ziehen jetzt in diesem Raum an dir vorüber.
Diese kindliche Weihnacht an der Seite deiner Eltern, umgeben von leuchtenden Kerzen und andächtig-ungeduldigen Menschen. Das klopfende Herz, als du am Taufstein stehst, deinen Kopf beugst und das Wasser spürst und die Hand, die dich segnet. Die Tränen, die du weinst und deine Mutter mit dir, als ihr nebeneinander sitzt und auf den Sarg von Oma schaut.
Du schüttelst dich. Eigentlich willst du dir doch nur den Raum anschauen und vielleicht ein oder zwei Bilder machen. Stattdessen siehst du dein Leben.
Du setzt dich hin und schließt die Augen. Da siehst und spürst du noch mehr: ein heiliger Ort, der Gott gehört. An dem du Gott gehörst.

Jesaja schreibt:
Serafim standen über dem Thron; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie.
Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!
Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.
(Jesaja 6,2-4)

Auch Serafim sind Engel, sind Boten Gottes. Aber solche, die Furcht einflößen: Schlangengleiche Wesen mit einem Menschenkopf, sechsflügelig. Mit zwei Flügeln fliegen sie.
Mit zwei anderen bedecken sie ihre Augen, weil Gottes Angesicht so blendet. Mit dem letzten Paar decken sie ihre Geschlechtsteile ab, um allein Gott die Ehre zu geben.
Aber vor allem: Sie rufen und singen laut: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen! Alle Lande sind seiner Ehre voll.“
So laut ist ihr Gesang, dass die Schwellen des Tempels davon erbeben und das Gebäude in seinen Grundfesten erzittert.

So jedenfalls sieht und erzählt es Jesaja vor bald 2.800 Jahren. Er steht im Tempel, einem Gebäude aus Stein und Lehm wie andere Gebäude auch. Und doch ein Heiliger Ort, einer der Gott gehört. Der Tempel kann Gott nicht fassen, aber seit Salomos Zeiten wohnt dort immerhin Gottes Name.
Jesaja sieht, wie mitten in seiner Wirklichkeit noch eine ganz andere verborgen ist, unsichtbar und doch da: die Wirklichkeit Gottes. Unfassbar groß, erschreckend und gefährlich, so erlebt er sie.
Alles Reden vom lieben Gott, von dem, der gütig und verständnisvoll ist wie ein gütiger Großvater, verbietet sich. Für Jesaja zumindest. Wer so von Gott redet, redet ihn klein.
Er begegnet Gott. Und der hat die Kraft, ein ganzes Leben in den Grundfesten zu erschüttern wie es der Gesang der Seraphim tut.
Vermutlich wäre Jesaja etwas anderes lieber. Ein wohliger kleiner Schauer vielleicht und das warme Gefühl, dass alles so, wie es ist, gut ist. Dass er so, wie er ist, gut ist. Als würde Gott sagen: Ich bin okay, du bist okay.
Aber Gott sagt nichts. Nur die Serafim singen laut. Und Jesaja zittert vor Angst.
Wer in das Kraftfeld Gottes gerät, womöglich ganz unbeabsichtigt, der wird durcheinandergewirbelt. Am Ende ist er nicht mehr der, der er vorher war.

Jesaja schreibt:
Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.
(Jesaja 6,5)

Jesaja gibt sein Leben aus der Hand in diesem einen Augenblick. Alles, was er hat oder ist, verliert seinen Wert.
Da ist nichts mehr, worauf er stolz wäre, was er in die Waagschale werfen wollte. Unter den Augen Gottes zerfällt sein Leben zu einem kleinen Häufchen Elend.
Er schämt sich: Er malt sich aus, wie Gott ihn wohl sehen muss. Und ihm fällt nichts ein, was ihm an sich selber gefallen würde, wenn er Gott wäre. Dafür aber vieles, was er vor sich selber gern verbirgt – aber jetzt nicht mehr kann.
Wie kommt einer wieder heraus aus der Scham? Was mache ich, wenn ich überführt bin: eines kleinen Fehlers, einer großen Lüge? Wie gehe ich damit um, wenn mein stolzes Ich angegriffen wird?
Ich kann Tweets schreiben. In denen ich leugne, dass ich etwas falsch gemacht haben sollte. Und in denen ich die lächerlich mache, die mir etwas vorwerfen. In denen ich alles zu fake news erkläre, was nicht meiner Sicht auf die Welt und die Wahrheit entspricht.
Natürlich mache ich das nicht. Ich habe ja keinen Twitter-Account. Und doch leugne ich eher, als dass mir gelingt, was Jesaja tut. Er verwandelt seine Scham in Demut. Er hält sie aus, seine Fehler, und liefert sich dem aus, an dem er schuldig geworden ist. Der, Gott, soll sein Urteil sprechen.

Jesaja schreibt:
Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.
(Jesaja 6,6-7)

Auch das ist eine Taufe: eine glühende Kohle, die den Mund verbrennt.
Kein Vergleich zu den beiden Taufen, die ihr gerade erlebt habt, liebe Anna und liebe Familie Holst . Da ging es um etwas anderes. Da ging es um ein Versprechen.
Ihr habt Kira zur Taufe gebracht, weil ihr hofft: Gott umgibt sie von allen Seiten und hält seine Hand über ihr.
Dass du jetzt getauft bist, Anna, ist auch dein Versprechen, dass du vertrauen willst: Gott ist dein Licht und Heil, wovor solltest du dich also fürchten?
Taufe ist ein Bündnis, das ihr geschlossen habt mit Gott. Ein Bündnis für das Leben von … und dein Leben – und gegen all das, was euch ängstlich und einsam machen könnte.
Auf dem Taufstein hat das der Steinmetz eingehauen: Ein Ritter ist darauf zu sehen, der einen Menschen vor einem Monster retten will. In letzter Sekunde befreit er ihn vor dem, was ihm ans Leben will, und schenkt ihm das Leben neu.
Aber auch das, was Jesaja erlebt, ist Taufe: Wer vor dem Monster gerettet wird, trägt Narben aus dem Kampf davon. Gott hinterlässt Spuren, wenn er so in ein Leben tritt.
Manchmal sind es Wunden, die sich dem Gedächtnis einbrennen. Wie die Kohle an Jesajas Lippen.
Manchmal ist es wie ein Bauchnabel ist, der Jahre später noch an die neue Geburt erinnert: Jetzt ist dein Leben neu und du bist frei.

Jesaja schreibt:
Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!
(Jesaja 6,8)

Du sitzt eine kleine Weile in deiner Bank und merkst gar nicht, wie die Zeit vergeht. Vielleicht steht sie ja auch still, für einen kleinen ewigen Augenblick.
Solltest du jetzt beten?, geht es dir durch den Kopf. Irgendetwas sagen, dem, der so nah ist, obwohl du ihn nicht siehst, noch nie gesehen hast.
Aber er hat dich berührt. Am Herzen berührt. Er muss also da sein. Irgendwo um dich herum. Dir gegenüber. In dir. Also wird er auch hören, was du nicht sagen kannst.

Er wendet sich zum Gehen. Noch ein letzter Blick auf den Altar, in das Gewölbe.
Dann steht er vor dem Tisch im Vorraum. Ein Buch liegt dort, die Seiten beschrieben von den Leuten, die in den letzten Tagen wie er diesen Raum betraten. Die nichts suchten, aber gefunden wurden.
Er nimmt den Kugelschreiber, hält kurz inne und schreibt: Danke für das Leben, das jeden Tag neu wird und immer dir gehört.

Vergnügt blinzelt er in die Sonne, als er vor die Tür tritt.

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