Josef und die G20
Weil
ein Linksautonomer aus dem schwarzen Block während eines Protestes
einen geparkten Twingo am Straßenrand angezündet hat, haben die
geschockten Regierungschefs der G20-Staaten umgehend eine sozialere
Weltordnung beschlossen.
„Die
heroische Tat dieses Freiheitskämpfers hat uns umdenken lassen“,
erklärten US-Präsident Donald Trump, der russische Präsident
Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel.
„Der
Raubtierkapitalismus, wie er bisher praktiziert wurde, ist hiermit
offiziell beendet. Lasst uns alle im Feuerschein dieses brennenden
Kleinwagens als Menschheit näher zusammenrücken.“
Das
sind natürlich Fake News. Gefunden auf der Satire-Seite „Der Postillon“. Die wirkliche Welt spielt nach anderen Regeln. Wie zum
Beispiel Josef und seine Brüder mit ihrer vertrackten
Familiengeschichte.
Sie
spielen ihr Geschwisterspiel. Um Macht und Liebe treten sie
gegeneinander an.
Josef
hat zunächst die besseren Karten. In einem bunten Gewand stolziert
er herum, das ihm der Vater schenkte. „Ich bin der Lieblingssohn“,
sagt es.
Und
Josef sagt das den Brüdern ins Gesicht: „Hört doch, was mir
geträumt hat. Siehe, wir banden Garben auf dem Felde, und meine
Garbe richtete sich auf und blieb stehen, aber eure Garben stellten
sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe.“ (1.
Mose 37,6f.)
Hätte
es damals Twitter gegeben, Josef hätte seine Freude daran gehabt,
kleine Nachrichten in die Welt zu schicken: „I had another dream.
Die Sonne und der Mond und die elf Sterne neigten sich vor mir.“
(1. Mose 37,9.)
Selbstverliebte
Machtträume sind es, die Joseph träumt. Sie treiben die Trumps und
Putins und Erdogans dieser Welt an: Ganze Länder, die sich vor ihnen
verneigen sollen.
Wer
es nicht tut, wird auf Twitter mit Hohn und Spott überhäuft,
bekommt verdeckte oder offene Drohungen, wird verhaftet, ausgewiesen,
mundtot gemacht.
Das
Erstaunliche: Unzählige Follower und Anhänger tun es. Sie verbeugen
sich vor denen, die sich selbst ermächtigen. Sie huldigen denen, die
huldvoll in die Kameras grinsen oder mit sich überschlagender Stimme
geifern.
Josefs
Brüder sind keine Follower. Sie beugen sich nicht. Noch nicht. Im
Gegenteil – sie erheben sich:
„Seht,
der Träumer kommt daher! So kommt nun und lasst uns ihn töten und
in eine Grube werfen [...]; so wird man sehen, was seine Träume
sind.“ (1. Mose 37,19f.)
Wer
Machtträume träumt, träumt sie immer auch für andere: Für die,
über die er die Macht haben will. Aber was, wenn die es vorziehen,
ihre eigenen Träume zu leben, statt eine dienstbare Rolle im Traum
eines anderen zu spielen?
Hätte
es damals Facebook gegeben, Josef wäre in einem Shitstorm
hinweggefegt worden. Einer fängt an: Was denkst du dir eigentlich,
du Träumer? Der nächste hängt sich dran: Du bist doch ein
Vollhonk. Der dritte fällt mit einem wütenden Emoji ein: So einen
wie dich sollte man in die Grube werfen.
Schon
ist sie losgetreten, die Lawine aus Hass. Sie ist nicht mehr
aufzuhalten. Sie überrollt den, dem der Hass gilt. Und sie überrollt
die, die sie losgetreten haben.
Und
sie ziehen sich schwarz an und bilden einen Block und stapeln
Barrikaden und zünden sie an und sammeln Steine und zerschmeißen
Schaufenster.
Und
wenn sie einen Josef finden, werfen sie ihn in die Grube. Oder
verkaufen ihn an Kaufleute aus Midian.
So
wie die Brüder Josef verkaufen. Sie wollen seinen Traum zerstören
und helfen ihm, ihn zu leben – weit weg, in Ägypten.
Dort
steigt er auf. Er wird Wesir des Pharaos. Einer, vor dem die Menschen
die Augen niederschlagen und sich verbeugen.
Die
Brüder tun es, als sie nach langen Jahren vor ihm stehen. Getreide
wollen sie von ihm kaufen, gegen die Hungersnot in ihrem Land.
Er
erkennt sie, sie erkennen ihn nicht. Wer Täter geworden ist,
vergisst seine Schuld und mit ihr sein Opfer. Das Opfer würde gern
vergessen, kann es aber nicht.
Josef
spielt mit seinen Brüdern. Sie sind dem Fremden, der er für sie
ist, ausgeliefert. Das lässt er sie spüren. Sie wollen etwas von
ihm, also müssen sie tun, was er will.
Er
schickt sie zurück in ihr Land und behält einen von ihnen als
Geisel bei sich. Sie sollen wieder kommen. Er legt ihnen Gold in ihre
Säcke. Damit sie noch tiefer in seiner Schuld stehen und sich vor
ihm fürchten.
Josef
sitzt ganz allein auf seiner Seite der Wippe. Mit den Scheunen voller
Getreide und den Truhen voller Gold hält er sie am Boden
Die
Brüder sitzen auf der anderen Seite. Mit nichts in den Händen und
Hunger in den Bäuchen und der Bitte nach Getreide auf den Lippen
hängen sie in der Luft
Und
Josef fragt wie Kinder im Spiel: Wie viele Tage wollt ihr dort oben
bleiben? Keinen einzigen, wollen die Brüder entgegnen. So lange du
willst, müssen sie antworten.
Am
Freitag Abend gab es in Hamburg und in vielen anderen Kirchen in
Norddeutschland und auch bei uns hier auf der Insel Friedensgebete
zum G20-Gipfel. Mit 21 Glockenschlägen sollten sie anfangen und 21
Minuten dauern.
Ein
Zeichen sollte die 21 sein: An die G20, die Schwergewichte, die ihre
Seite der Wippe unten halten und vergnügt oder zynisch zur anderen
Seite schauen.
Dort
hängen die Leichtgewichte aus Afrika und Asien in der Luft, mit
nichts als geplünderten Staatskassen und leeren Getreidesilos. Sie
sind die 21, mit denen die G20 ihr Machtspiel spielen.
Das
muss anders werden. Kann das anders werden?
Zwischen
Josef und seinen Brüdern wird es anders. Er gibt sich ihnen zu
erkennen. Sie liegen sich in den Armen. Sie holen den alten Vater
nach Ägypten. Die Familie ist wieder vereint.
Aber
kann es wirklich anders werden?
Die
Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war,
und sprachen: „Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit
vergelten, die wir an ihm getan haben.“
Darum
ließen sie ihm sagen: „Dein Vater befahl vor seinem Tode und
sprach: 'So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die
Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben.' Nun
vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines
Vaters!“ (1. Mose 50,15-17a.)
Die Brüder kennen die Spielregeln.
Und sie erkennen: Sie können das Spiel nicht mehr gewinnen. Sie
können allenfalls noch erreichen, dass die Niederlage sich in
Grenzen hält.
Sie machen sich klein. Ob nun aus
Überzeugung oder aus Not. Es ist unwortwörtlich alternativlos: Der
Sieger bestimmt die Regeln.
Zeit also für Josef, die Hymne des
Siegers anzustimmen: No time for losers, 'cause we are the champions
of the world.
So
sagen es die Regeln. Eigentlich. Aber Josef weinte, als man
ihm solches sagte. (1. Mose
50,17b.)
Der Sieger weint. Der Sieg ist da. Die
Sterne verbeugen sich vor der Sonne. Josefs Traum wird Wirklichkeit.
Aber jetzt, wo er wirklich ist, fühlt er sich schal an und falsch.
Josef könnte den Triumph auskosten.
Stattdessen schmeckt er, wie bitter die Niederlage seinen Brüdern
schmeckt.
Ein Leben lang sah er sich als die
Garbe, vor der sich die anderen Garben verbeugen sollten. Jetzt, da
sie es tun, wechselt er die Seiten und spürt, wie sich der Rücken
krümmt und der Blick senkt.
Ein Fußballtrainer bekam im letzten
Jahr einen Fairplay-Preis: Im Augenblick des Sieges war er zuerst zu
den Spielern des Gegners gegangen und hatte den Arm um sie gelegt und
ihnen vom Rasen hoch geholfen.
Der Sieger wechselt auf die Seite der
Verlierer. Nicht auszudenken, wenn das Schule machen würde. In der
Politik, in der Wirtschaft.
Und
seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor Josef nieder und
sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
Josef
aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an
Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott
gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich
am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht;
ich will euch und eure Kinder versorgen.“
Und
er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. (1. Mose 50,18-21.)
Vielleicht
kniet Josef sich zu seinen Brüdern in den Staub. Vielleicht geht er
auch zu jedem einzelnen hin und reicht ihm die Hand und hilft ihm
auf. Sie schauen sich an und sehen sich ins Angesicht und erkennen
einander als Brüder.
Dann
beginnt der Tag, heißt es: Wenn du im Angesicht des Gegenübers deinen Bruder oder deine Schwester erkennst. Und dann beginnt die
Sonne zu strahlen: Wenn du in ihm und sie in dir das Angesicht Gottes
erkennt.
Josef
sieht seinen krummen Weg. Und er erkennt, wie reich er ist. Und er
sieht, wozu das alles gut war und gut ist. Und er erkennt, was er tun
muss. Mit der Macht, die er hat, als Wesir des Pharaos. Mit dem
Reichtum, den er verwaltet.
Es
ist das Ende der langen Geschichte zwischen Josef und seinen Brüdern.
Was,
wenn die Präsidenten und Kanzlerinnen unserer Tage auch dahin kämen,
wenn sie von ihrem Gipfel herabsteigen?
Wenn
sie ihren Reichtum nehmen, den persönlichen und den, den sie
verwalten. Und ihn weiterreichen an die, die bislang nur von den
Krümeln leben, die vom Tisch fallen. Wenn sie denen einen Platz
anbieten an ihrem Tisch?
„So
fürchtet euch nun nicht. Wir wollen euch und eure Kinder versorgen.“
Und
alle rücken zusammen und lauschen der Ode an die Freude.
Ja,
nur ein Traum. Aber so ist die Reihenfolge: Erst kommt der Traum,
dann folgt die Wirklichkeit.
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