Glänzen wie die Sterne






»Hab keine Angst! Gott liebt dich. Frieden sei mit dir!« (Daniel 10,19.)
Der Engel spricht sacht zu Daniel, berührt leise seinen Arm. Das tut gut. Sehr gut. Tod und Zerstörung hat Daniel gesehen.
Seine Heimat liegt in Trümmern, Jahrzehnte schon. Die Menschen um ihn herum schauen immer noch gebannt auf das Ende, das mit Schrecken kam. 
Er will den Blick lösen von dem, was war. Er will neues Leben, für sich, für die Menschen um ihn herum.
Er hebt den Kopf. Er hebt die Hände. Er klagt das Leid zu Gott. Sein Leid, das Leid der Menschen. Leid, das von Gott kommen muss, wenn es eine Sinn haben soll. Und wenn das Leid von Gott kommt, soll er helfen, es zu tragen.
Da erscheint ihm der Engel. Eine Gestalt aus Licht, die ihn leise anspricht, die ihn sanft anrührt.

»Hab keine Angst! Gott liebt dich. Frieden sei mit dir!« 
Eine spricht mich leise an und legt ihre Hand sacht auf meine Schulter. Ich atme auf, richte mich auf. Da ist eine bei mir. Eine, die mit mir teilt, was mich so einsam macht. Die Trauer, der Schmerz.
Ich möchte eigentlich nicht reden. Nicht über den Tod. Nicht über den Menschen, den er mir genommen hat. 
Ich möchte auch nicht daran denken. Aber ich komme nicht los davon: das letzte Gespräch, der Abschied für immer.
Also erzähle ich doch. Das tut weh. Aber der Schmerz bekommt Worte. Und die Worte kann ich mit ihr teilen.
Sie sagt nichts. Sie sitzt nur da und hört zu. Sie nimmt die Worte auf, in ihr Ohr, in ihr Herz. Und teilt so meinen Schmerz. Mir wird leichter.

Der Engel sagt zu Daniel: »Es wird eine Zeit der Not und Bedrängnis sein, wie es sie seit Menschengedenken nicht gegeben hat.« (Daniel 12,1b.)
Daniel wünscht sich etwas anderes. Es kann doch einfach vorbei sein. Und etwas Neues anfangen. Er und alle Menschen um ihn herum wischen die Tränen ab und krempeln die Arme hoch und packen an.
Stück für Stück nehmen sie die Trümmer, die herumliegen, und bauen sie wieder auf: die Häuser, die Heimat, die Zukunft.
Und dann wird es so sein, als sei nie etwas gewesen. Bald schon werden sie vergessen haben, dass es jemals Trauer und Trümmer gaben.
Doch der Engel lässt Daniel dort sitzen. Inmitten von Not und Bedrängnis. Als seien sie unausweichlich. Nichts, das ohne weiteres einfach aufhört.

»Es wird eine Zeit der Not und Bedrängnis sein, wie es sie seit Menschengedenken nicht gegeben hat.«
Ich würde den Tod und die Trauer gern abschütteln können. Wie einen schlechten Traum etwa. Schon bei der ersten Tasse Kaffee beginnt er zu verblassen.
Doch Tod und Trauer verfliegen nicht. Auch wenn ich mich Tag für Tag einen Schritt entferne vom offenen Grab, an dem ich stand.
Tod und Trauer laufen mit und manchmal bringen sie mich zum Stolpern, mitten im Alltag oder an einem Tag wie heute.
Ich stehe ihnen wieder gegenüber, dem Schmerz und dem Abschied. Auch wenn ich sie dann schon längst kenne, erlebe ich sie wieder neu. Durchdringend, aufwühlend.
Jetzt weglaufen, hilft nicht. Die Augen schließen und langsam bis drei zählen auch nicht.
Ich muss ihnen in die Augen schauen, dem Tod und der Trauer. Sie gehören zu meinem Leben.

Der Engel sagt Daniel: »Aber dein Volk wird gerettet werden, alle, deren Namen im Buch Gottes geschrieben stehen.« (Daniel 12,1b.)
Daniel sieht sie vor sich: eine große, dicke Rolle aus Papyrus. Sie rollt sich auf vor seinem inneren Auge auf und zeigt eine endlose Reihe von Namen.
Aus jedem Namen steigen ein Gesicht auf und eine Geschichte. Die Namen mögen sich wiederholen. Die Gesichter und die Geschichten sind alle einzigartig.
Vielleicht ist diese Rolle der größte Schatz, den Gott besitzt: Zu jedem Namen, der in ihr steht, gehört ein Leben. Gott hält die Namen fest – und er bewahrt jedes Leben.
Kein Mensch geht Gott verloren. Von ihm kommen sie, zu ihm gehen sie. Er segnet ihren Ausgang und Eingang.

»Aber dein Volk wird gerettet werden, alle, deren Namen im Buch Gottes geschrieben stehen.«
In meinem Herz stehen auch Namen. Von Menschen, die gestorben sind. Manche zu früh. Andere, als es Zeit war.
Ich trage ihre Namen weiter in mir. Deswegen haben Tod und Trauer noch Macht über mich. Manchmal fängt das Herz an zu bluten, wenn ich an diese Menschen denke.
Die Gesichter und die Geschichten steigen auf, die zu den Namen gehören. Ich kann sie vor mir sehen, ich kann sie erzählen. Die Trauer beginnt sich zu verwandeln. 
Sie fängt an zu lächeln. Sie wird warm. Weil sie sich mit Leben füllt. Mit dem Leben, das ich mit den Menschen geteilt habe.
Jemand ist erst tot, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert. Also erinnere ich mich und trage den Menschen im Herzen.
Und vertraue, dass Gott das auch tut. Er schreibt die Namen aller Menschen in sein Herz. Er trägt sie alle in sich, die Namen und die Gesichter und die Geschichten.

Der Engel sagt zu Daniel: »Viele, die in der Erde schlafen, werden erwachen, die einen zu ewigem Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.« (Daniel 12,2.)
Daniel stellt sich das vor: Menschen stehen auf aus dem Tod wie aus einem Schlaf. Auf ihren Gesichtern stehen ihr Tod und ihr Leben geschrieben.
Ruhe geht von den einen aus, der Friede, den sie gefunden haben. Sie sind im Reinen mit dem Leben, das sie lebten.
Erschrocken sehen die anderen aus. Weit aufgerissene Augen, als hätte ihnen jemand den Blick aufgetan für das, was sie anderen Menschen angetan haben.
Daniel sieht das Gericht und was es mit den Menschen macht. Es sorgt für Gerechtigkeit, endlich. Für eine Gerechtigkeit, die Daniel hier, in diesem Leben vermisst.
Hier leiden die Gerechten, weil sie nicht auf Kosten anderer leben wollen. Aber die Ungerechten fahren die Ellbogen aus – und haben ein gutes Leben.
Dort aber, im Gericht, wird Gott das zurecht bringen. Die gerechte Strafe für die einen und und für die anderen den gerechten Lohn. Es muss diesen Ort geben, an dem die Gerechtigkeit herrscht. So sieht es Daniel.

»Viele, die in der Erde schlafen, werden erwachen, die einen zu ewigem Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.«
Ich schaue auf den Tod und sehe eine Tür, die sich öffnet. Eine Tür aus Licht in einer dunklen Wand. Ich stelle mir vor, jeder geht durch diese Tür. Auch ich, wenn es an der Zeit ist.
Dann stehe ich auf der Schwelle dieser Tür. Und muss Rechenschaft ablegen über mein Leben.
Bist du den Menschen gerecht geworden, denen du begegnet bist? Bist du dem gerecht geworden, was dir für dein Leben anvertraut wurde?
Ich sehe wie wertvoll das Leben ist: Auch wenn mein Leben vielleicht nur ein Wimpernschlag ist: Es kommt darauf an, wie ich mein Leben lebe. Jedes Leben hinterlässt Spuren, auch meines. 
Ich stelle mir vor: Wenn ich in der Tür stehe, werde ich mit Gott zurück auf diese Spuren sehen. Gott wird mich nicht allein lassen mit dem, was ich sehe, an Schönem, an Schwerem.
Danach werde ich mich umwenden. Und dann gibt es nur einen Weg, den Gott mich über die Schwelle führen wird: den Weg ins Licht, ins ewige Leben. Weil Gott es für jeden so will.

Der Engel sagt Daniel: »Die Einsichtigen werden leuchten wie der taghelle Himmel, und alle, die anderen den rechten Weg gezeigt haben, werden glänzen wie die Sterne für ewige Zeiten.« (Daniel 12,3.)
Daniel sieht den taghellen Himmel. Er sieht das ewige Blau, das sich über ihm wölbt. Er sieht die Sonne, von der er weiß, dass sie untergeht, um wieder aufzugehen.
Und er sieht das Bild, das der Engel ihm malt: Das Leben eines Menschen gleicht einem Tag, der am Ende in der Nacht versinkt. Aber aus der Nacht geht ein neuer Tag hervor. 
Aus dem Tod geht neues Leben hervor. Dieses neue Leben leuchtet wie der ewige Himmel. Unerreichbar nah in seiner blauen Weite. Ein Ort jenseits aller Orte. Er leuchtet für die Ewigkeit: Zeit jenseits aller Zeit.

»Die Einsichtigen werden leuchten wie der taghelle Himmel, und alle, die anderen den rechten Weg gezeigt haben, werden glänzen wie die Sterne für ewige Zeiten.«
Da stehe ich eines Abends und schaue in den Himmel über der Marsch. Dunkel und schwarz liegt er über mir. 
Ich schaue hin und sehe den ersten Stern. Und den zweiten. Ich sehe das erste Sternbild und das nächste. Immer mehr Lichter durchbrechen das Dunkel und verweben sich zu einem unendlichen Lichtmuster.
Der leuchtende Nachthimmel gefällt mir als Bild für den Tod und das Leben. Dunkel auf den ersten Blick und doch voller Licht wölbt er sich über mir.
Der dunkle Himmel kann das Licht nicht schlucken, der Tod nicht das Leben.
Die, um die ich trauere, leuchten weiter, auch im Tod. Jeder, der stirbt, trägt ein weiteres Licht in die Todesnacht. Wer hier liebt und lebt, leuchtet dort weiter. Die, von denen ich Abschied nehmen musste. Eines Tages auch ich.

»Hab keine Angst! Gott liebt dich. Frieden sei mit dir!«

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