Aufs Kreuz schauen

I

Ich will hier bei dir stehen, / verachte mich doch nicht; / von dir will ich nicht gehen, / wenn dir dein Herze bricht; / wenn dein Haupt wird erblassen im letzten Todesstoß, alsdann will ich dich fassen in meinen Arm und Schoß.

Hier stehen wir und können nicht anders und schauen auf das Kreuz und hoffen, dass Gott uns hilft.
Jesus stirbt und wir schauen ihm dabei zu. Hilflos angesichts der Macht, die ihn dorthin gebracht hat. Dem Tod ausgeliefert, wie er es ist.
Auf der Suche nach Worten, die uns noch mehr trösten als ihn. Es heißt: Abschied ist leichter für die, die gehen, als für die, die bleiben.
Jesus wird sterben. Und mit ihm stirbt das Leben. Jesus wird sterben und Gott zieht aus der Welt aus.
Der Mensch bleibt allein, mit sich und seiner Finsternis. Gleich bleiben wir allein. Ohne Gott. Können wir nicht etwas tun, irgendetwas?

II

Und Jesus schrie laut: »Vater, in deine Hände gebe ich mein Leben.« Nach diesen Worten starb er. (Lukas 23,46 - Basisbibel)

Jesus stirbt. Er stirbt allein. Er geht den Weg, auf dem wir ihn nicht begleiten können. Ob er uns verachtet? Jedenfalls braucht er uns nicht.
»Vater, in deine Hände gebe ich mein Leben.« Jesus braucht nur Gott. Der ist und bleibt auch im Sterben sein Vater. Wir können ihn nicht halten. Halt gibt ihm Gott.
Ihm ist er nahe. Es ist ja nicht Gott, der ihm das Leben nimmt, der ihn opfert.
Es sind die Menschen, die ihn dem Hass opfern und ihm das Leben nehmen wollen. Warum sollte er sich ihnen anvertrauen?
Sie bringen ihn um, aber Macht haben sie keine über sein Leben. Auch nicht im Tod. Es entzieht sich ihrem Zugriff – es liegt in Gottes Händen.
Und dort liegt es gut: „In deine Hand lege ich mein Leben. Gewiss wirst du mich befreien, HERR. Du bist doch ein treuer Gott.“ (Psalm 31,6)
So geht der Psalmvers weiter, mit dem Jesus betet – er vertraut, dass sein Vater ihn erlösen wird. Jesus entzieht sich den Menschen. Er gehört ganz zu Gott.

III

Hier stehen wir und schauen auf das Kreuz. Neben uns steht der Hauptmann, der für die Hinrichtung zuständig ist.

Der römische Hauptmann sah genau, was geschah. Da lobte er Gott und sagte: »Dieser Mensch hat wirklich ganz und gar so gelebt, wie Gott es will.« (Lukas 23,47 - Basisbibel)

Der Hauptmann verfolgt von Amts wegen die Hinrichtung. Er ist beeindruckt.
Vielleicht von der Würde, mit der Jesus stirbt. Er trägt den Schmerz, den er tragen muss. Er flieht nicht in die Verzweiflung oder in den Spott. Er hält dem Leiden stand.
Vielleicht möchte der Hauptmann auch so sterben: Erhobenen Hauptes, mit einer Würde, die auch im Tod unantastbar bleibt.
Vielleicht beeindruckt ihn auch das Vertrauen, mit dem der Mann am Kreuz sein Leben in die Hände seines Gottes legt. Vater sagt er zu diesem Gott.
Es ist nicht der Gott des Hauptmanns. Dennoch erkennt der Hauptmann die enge Beziehung, die den Mann mit seinem Gott verbindet.
Und: Der dort stirbt ist ein Gerechter, ein Rechtschaffener, einer, der Gott gefällt. Am Kreuz geht einer in den Tod, der ein Mensch nach Gottes Willen ist.
Das lebt Jesus auch noch im Sterben. Kein böses Wort, kein Hass gegen die Menschen, die ihn hinrichten. Kein Verfluchen, kein Abwenden von Gott, der nicht einschreitet.
Stattdessen zwei Worte voller Vertrauen und Liebe: „Vater, in deine Hände gebe ich mein Leben.“ Und: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.
Jesus gibt sich der Liebe hin. Er gibt sich in die Hände Gottes. Er vertraut ihm, dass er ihn erlösen wird.
Er gibt sich in die Hände der Menschen, dass sie mit ihm machen, wovon sie nicht wissen, was sie da tun.

IV

Hier stehen wir und schauen auf das Kreuz. Wir stehen inmitten von vielen Menschen auf dem Schädelberg.

Es war auch eine große Menge Schaulustiger dorthin geströmt. Als die sahen, was da geschah, schlugen sie sich auf die Brust und gingen betroffen in die Stadt zurück. (Lukas 23,48 - Basisbibel)

Am Ende erkennen die Menschen doch, was sie tun. Am Ende erkennen sie doch die Liebe, die sie am Kreuz hinrichten.
Am Anfang stehen sie jubelnd am Straßenrand, außer sich vor Freude, dass Jesus kommt. Jetzt wird alles anders.
Dann wird alles anders – die Freude verwandelt sich in Hass. In den Hass, den sie schon so lange in sich tragen. Gegen die Römer, die das Leben bestimmen. Gegen die Priester, die den Glauben regeln.
Jesus sollte sie von dem Hass befreien, indem er die Römer verjagt, die Priester entmachtet. Er tut es nicht. Also trifft ihn der Hass.
Der Hass hat sie mit sich fortgerissen. Aber jetzt hat er sie an Land gespült. Und sie erkennen es: Ihren Hass und was er angerichtet hat.
So schlagen sie sich an die Brust. Ja, es ist ihre Schuld, dass Jesus am Kreuz hängt und qualvoll gestorben ist. Sie haben ihn ans Kreuz gebracht. Ihr Hass hat ihn getötet.
Sie kehren um, eine Frage im Nacken, auf die sie keine Antwort wissen: Wer wird ihnen diese Schuld vergeben?

V

Wir bleiben hier stehen und sehen auf das Kreuz: Es zeigt uns den Hass der Menschen. Aber vielleicht zeigt es uns auch die Liebe.
Das Kreuz ist ein Zeichen, das uns erschrecken lässt: Dazu ist der Hass des Menschen fähig.
Er macht vor dem Gerechten nicht Halt. Er gilt gerade dem, der so lebt, wie wir uns Leben wünschen: Voller Vertrauen zu Gott. Voller Zuwendung zu den Menschen.
Der Hass gilt gerade ihm, weil er uns sehen macht: Wir sind nicht, wie wir sein sollten und auch sein wollten.
Doch wenn er tot ist, dann stirbt auch unser schlechtes Gewissen. Wenn Gott tot ist, dann stirbt auch die Sehnsucht nach Liebe.
Dabei wird gerade in diesem Tod die Liebe sichtbar: Sie nimmt den Hass auf sich. Sie erduldet ihn. Da ist kein Zorn, kein Gericht, keine Strafe.
Da ist nur ohnmächtige Liebe, die mit sich machen lässt, was der Hass mit ihr tun will. Die Liebe setzt sich dem Hass aus – in der Hoffnung, dass der Hass über sich selber erschrickt und die Marterwerkzeuge fallen lässt.
Der Hass tut es nicht. Jesus stirbt am Kreuz. Der Hass siegt über die Liebe.
Erst als die Liebe tot ist, erkennt der Hass, was er getan hat und schlägt sich an die Brust.
Zu spät, sagt der Karfreitag. Gerade noch rechtzeitig, sagt der Ostersonntag. Liebe ist stärker als Hass und Tod zusammen.

VI

Doch der Ostersonntag ist noch fern. Jetzt ist Karfreitag. Hier stehen wir und schauen auf das Kreuz. Und wir sehen auch die, die zu Jesus gehören

In einiger Entfernung standen die beieinander, die Jesus kannten. Unter ihnen waren die Frauen, die Jesus gefolgt waren, seit er in Galiläa wirkte. Auch sie sahen alles mit an.
(Lukas 23,49 - Basisbibel)

Sie stehen da und sehen von weitem zu, die Frauen und Männer, die Jesus auf seiner Wanderung begleitet haben.
Sie haben sich entfernt von Jesus. Räumlich und innerlich. Sie sind nur noch solche, die Jesus von irgendwoher irgendwie kennen. Haben sie noch etwas mit ihm zu tun?
Mit dem Tod Jesu sind auch alle Gefühle in ihnen gestorben. Keine Angst, die Beine zu schwer zum Fortlaufen. Keine Trauer, die Herzen zu schwer zum Weinen. Der Kopf ist leer. Der Schock lähmt das Denken und Fühlen und Handeln.
Wie wird es sein, wenn die Schockstarre weicht? Wie werden sie dann das Kreuz sehen? Wie werden sie dann davon erzählen? Um zu verstehen, was sie nicht verstehen können: Dass Jesus am Kreuz stirbt.

Aber vielleicht ist das auch angemessen: Von Ferne auf das Kreuz zu schauen. Auf den, der dort stirbt.
Auf Jesus, der die Liebe säte und Hass erntete. Auf Gottes Sohn, der das Leben wollte und den Tod bekam.
Vielleicht ist das angemessen: Einfach das Kreuz zu sehen und die Geschichte von diesem Jesus am Kreuz zu hören.
Ohne erschöpfende Antworten. Ohne umfassende Erklärungen. Schweigend. In Ehrfurcht vor dem Haupt voll Blut und Wunden.

Herr, stärke uns, dein Leiden zu bedenken. Amen.

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