Blicke aufs Kreuz

Karfreitag ist für mich der Tag, an dem ich auf das Kreuz sehe. Der Tag, an dem ich auf das Leiden Gottes sehe und mich frage: Was sehe ich, wenn ich auf das Kreuz sehe? Jahr für Jahr suche ich neu nach einer Antwort.
Es gibt nicht das eine Bild, es gibt nicht den einen Blick auf das Kreuz. Schon die Erzählungen der vier Evangelien entwerfen jede ihr eigenes Bild. Jeder Evangelist hat seinen eigenen Blick auf das Kreuz. Alle zeigen sie uns ihr Bild, wie sie das Kreuz sehen.
Auf das Bild, das Johannes skizziert, haben wir eben gesehen. Ein anderes Bild zeigt uns Matthäus.

So kamen sie zu der Stelle, die Golgota heißt, das bedeutet "Schädelplatz". Sie gaben Jesus Wein zu trinken, der mit Galle gemischt war. Er probierte davon, wollte ihn aber nicht trinken. Dann kreuzigten sie ihn. Sie verteilten seine Kleider und losten sie untereinander aus. Danach setzen sie sich hin und bewachten ihn. Über seinem Kopf brachten sie ein Schild an. Auf dem stand der Grund für seine Verurteilung: "Das ist Jesus, der König der Juden."
Mit Jesus kreuzigten sie zwei Verbrecher, den einen rechts, den anderen links von ihm. Die Leute, die vorbeikamen, lästerten über ihn. Sie schüttelten ihre Köpfe und sagten: "Du wolltest doch den Tempel abreißen und in nur drei Tagen wieder aufbauen. Wenn du wirklich der Sohn Gottes bist,
dann rette dich selbst und steig vom Kreuz herunter!"
Genauso machten sich die führenden Priester zusammen mit den Schriftgelehrten und Ratsältesten über ihn lustig. Sie sagten: "Andere hat er gerettet. Sich selbst kann er nicht retten. Dabei ist er doch der 'König von Israel'! Er soll jetzt vom Kreuz herabsteigen, dann glauben wir an ihn. Er hat Gott vertraut – der soll ihn auch retten, wenn er ihn liebt. Er hat doch behauptet: 'Ich bin Gottes Sohn.'"
Genauso verspotteten ihn die beiden Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt waren.

Es war die sechste Stunde, da breitete sich im ganzen Land Finsternis aus. Das dauerte bis zur neunten Stunde. Um die neunte Stunde schrie Jesus laut: "Eli, Eli, lema sabachtani?" Das heißt: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Als sie das hörten, sagten einige von denen, die dabeistanden: "Er ruft nach Elija." Sofort lief einer von ihnen hin, nahm einen Schwamm und tauchte ihn in Essig. Dann steckte er ihn auf eine Stange und hielt ihn Jesus zum Trinken hin. Aber die anderen riefen: "Lass das! Wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihn rettet." Aber Jesus schrie noch einmal laut auf und starb.

Ein römischer Hauptmann mit seinen Soldaten bewachte Jesus. Sie sahen ... alles, was geschah. Da fürchteten sie sich sehr und sagten: "Er war wirklich der Sohn Gottes!"
Es waren auch viele Frauen da, die aus der Ferne alles mit ansahen. Seit Jesus in Galiläa wirkte,
waren sie ihm gefolgt und hatten ihn unterstützt. Unter ihnen war Maria aus Magdala und Maria, die Mutter von Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.
(Mt 27,33-50.54a.55a)

Liebe Gemeinde,

was sehen sie, die Menschen, die bei Matthäus am Kreuz stehen, sitzen, vorübergehen, in der Ferne verschwinden – und die alle auf das Kreuz sehen?
Da sind die Soldaten, die unter dem Kreuz sitzen und den Gekreuzigten bewachen. Es ist ihr Dienst, den sie verrichten. Sie waren schon oft bei einer Hinrichtung, sie werden noch oft bei Hinrichtungen sein. Für den am Kreuz, den sie bewachen, haben sie keinen Blick übrig. Ihre Augen richten sich auf ihren Gewinn: Die Kleider, um die sie spielen. Der am Kreuz berührt sie nicht.
Da sind die Schaulustigen, die vorübergehen. Sie waren schon beim Einzug ihn Jerusalem dabei und haben Hosianna geschrieen. Jetzt sind sie wieder da. Todeslüstern sind sie dem Kreuzigungszug gefolgt. Sie sind da, weil ein Spektakel um Leben und Tod aufgeführt wird. Der Tod betrifft sie nicht, er geht an ihnen vorüber. Sie spotten über den Tod und den, der ihn erleidet: Er trägt selber die Schuld, er hat es so gewollt. Er hätte seinem Tod ausweichen können. Der am Kreuz berührt sie nicht.
Da sind die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und Ältesten, die das Sagen haben. Der am Kreuz, der stellte ihr Leben in Frage. Mit Vollmacht sprach er von Gott – und verwirrte sie in ihrer guten, alten Tradition. Mit Ernst forderte und lebte er Liebe zu Gott und den Menschen – und ließ sie an ihren Bräuchen und Sitten zweifeln. Jetzt sind sie erleichtert. Sein Weg führt in den Tod. Er ist gescheitert. Sie können weitermachen wie bisher. Der am Kreuz braucht sie nicht weiter zu berühren.
Da sind die Räuber, die mit ihm gekreuzigt werden. Einer zur rechten, einer zur Linken. Sie wissen, warum sie sterben. Es ist ihr Berufsrisiko: Als sie loszogen, um Geld und Reichtum zu rauben, war ihnen klar, dass kommen konnte, was jetzt kommt. Das Kreuz ist die Folge ihres Tuns. Aber der mit ihnen gekreuzigt wird, der hat doch sein Leben verspielt für nichts als hehre Werte und hohle Worte. Der stirbt für nichts. Der am Kreuz neben ihnen macht sich lächerlich. Der berührt sie nicht.
Da ist der Hauptmann, der mit seinen Leuten nur seinen Dienst tut. Wer dort am Kreuz stirbt, das hat er nicht zu entscheiden. Das haben die Oberen zu entscheiden. Das hat dann auch seine Ordnung und Richtigkeit. Er trägt er nur dafür Sorge und Verantwortung, dass die Entscheidung der Oberen auch ausgeführt wird. Dennoch: Bei dem am Kreuz ist der Tod nicht in Ordnung. Etwas ist nicht richtig mit dem am Kreuz – oder mit ihm selber, der Hauptmann? Der am Kreuz berührt ihn.
Da sind die Frauen, die aus der Ferne zusehen. Weil sie dem am Kreuz so nah sind, trauen sie sich nicht näher an das Kreuz. Der Schmerz dreht ihnen das Herz um, fährt ihnen wie ein Schwert hinein, reißt es ihnen heraus. Sie haben ihn geliebt, sie lieben ihn. Sie können nichts für ihn tun. Nachher werden sie an sein Grab gehen, um von ihm Abschied zu nehmen. Sie werden ihn weiter in ihren Herzen tragen. Der am Kreuz berührt sie.

Wir sehen mit Matthäus auf das Kreuz. Und wir sehen Menschen, die auf das Kreuz sehen: Die einen sind erleichtert, dass der Tod sie nicht berührt; die anderen erschrecken über die Macht des Todes; die nächsten trauern angesichts des Todes. Drei Sichtweisen, die wir auf das Kreuz von Golgatha haben können: Erleichterung, Trauer, Erschrecken.

Wenn wir auf das Kreuz von Golgatha schauen, dann kann uns das Erschrecken überfallen. Wer die Ohren aufsperrt, hört vielleicht in dem Dunkel, das drei Stunden über dem Land liegt, den verzweifelten Jesus schreien: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wer den Schrei hört, stellt sich vielleicht die Frage, wer hier wohl stirbt. „O große Not! Gott selbst liegt tot.“ So heißt es in der ersten Fassung des Liedes „O Traurigkeit, o Herzeleid“. Zum wem aber schreit dann der Sterbende seinen Schrei? Zu sich selber? Wer kann ihm helfen, wenn Gott von Gott verlassen ist?
In der späteren Fassung des Liedes heißt es: „Gotts Sohn liegt tot.“ Aber auch hier bleibt das Erschrecken: Warum lässt Gott seinen Sohn sterben? Warum lässt Gott seinen Sohn unter den Menschen bis zum Tod leiden?
Wer sich vom Erschrecken packen lässt, wenn er auf das Kreuz von Golgatha sieht – der bereitet der Trauer in sich den Weg. Der Trauer darum, dass Gott an dieser Welt leidet und stirbt.
Wenn wir auf das Kreuz schauen, dann kann sich in uns die Trauer um den Menschen breit machen. Immer wieder zerstört er Leben. An der Schöpfung betreibt er Raubbau, als sei sie unerschöpflich. Tiere behandelt er, als wären sie seelen- und wertlose Fließbandware. Er nimmt sich selber das Leben in Krieg und Gewalt. Durch Ausbeutung und Geiz beschneidet er sich das Leben. Mit Streit und Hass macht er sich das Leben schwer. Er dreht sich um sich selber, glaubt nur an das, was er sieht und vergisst Gott.
Wenn wir auf das Kreuz schauen, kann sich auch das Mitleid mit Gott breit machen. „Karfreitag ist Zeit, Gott zu trösten“, hat Heinrich Böll einmal aufgeschrieben. Es ist Zeit, Gott zu trösten. Er selber droht zu verlieren , was Menschen immer wieder verlieren: Glaube, Liebe und Hoffnung. Er droht sich dort zu verlieren, wo wir uns immer wieder verlieren: in Verzweiflung, Hass, Angst. Ohnmächtig steht er dem Tod gegenüber.

Wer sich so vom Erschrecken in die Trauer des Karfreitags führen lässt, der gelangt vielleicht auch zum Leichten des Ostersonntags. Wenn wir in das Dunkel um das Kreuz von Golgatha sehen, dann sehen wir auch schon die Sonne, das aufgehende Licht des Ostermorgens. So sehen wir erleichtert auf das Kreuz, auf den Tod Jesu.
Wir können erleichtert sein, dass Jesus den Tod stirbt, den wir nicht sterben. Er stirbt den Tod dessen, der an seinem Leben gescheitert ist. Dabei ist es doch gerade sein Leben, in dem Gottes Gegenwart besonders zu sehen ist. Er macht Gottes Vollmacht sichtbar. Er zeigt, was es heißt, Gott und seinen Nächsten zu lieben. Und doch stirbt Jesus unseren Tod. Als würde er wie wir am Leben scheitern, an der Liebe zu Gott und zu den Menschen.
Das reizt zum Spott: Der, bei dem Gott immer ganz nah schien, der ist doch ganz von Gott verlassen. Also kann Gott nicht bei ihm sein. Also kann es Gott gar nicht geben.
Aber wir können erleichtert sein: Jesus geht dahin, wo er von Gott verlassen ist. So bringt er Gott dorthin, wo wir uns von ihm verlassen glauben: in unser Scheitern, in unser Versagen, in unsere Verzweiflung.
Wenn wir auf das Kreuz schauen, dann können wir erleichtert sein. Denn Jesus stirbt den Tod, den wir sterben. Er geht dorthin, wo kein Leben mehr ist. Er setzt sich dem Dunkel aus, wo kein Licht mehr hinscheint. Er teilt unseren Tod.
Der Tod ist die Grenze, die unser Leben unweigerlich hat. Wir können ihr nicht entgehen. Jesus, der Sohn Gottes, könnte das. Er könnte der Gott bleiben, der Leben schafft und bewahrt. Aber er tut es nicht. Er gibt seine Macht auf, um zu sterben, wie wir sterben. So überwindet er den Tod.
Das reizt zum Schmähen: Wozu stirbt er, wenn er nicht sterben müsste? Aber wir können erleichtert sein, dass er den Tod stirbt, den wir sterben. So können wir hoffen, dass wir auch das ganz andere Leben leben werden, zu dem er durch den Tod hindurch geht.
Wenn wir auf das Kreuz sehen, können wir erleichtert sein, denn wir sehen auch schon das leere Grab. Wir können am Karfreitag erleichtert sein, weil wir auf den Ostermorgen hoffen.

Dennoch bleibt da auch die Trauer: Gott stirbt, damit wir leben. Es bleibt auch das Entsetzen: Gott ist von Gott verlassen. Dort am Kreuz, auf das wir sehen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahren unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

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