Über Glauben streiten

Darf man eigentlich über Glauben streiten? Ich mag diese Frage kaum stellen, ausgerechnet heute am Pfingstsonntag.
Denn Streit – der war ja gestern. Gestern, das war noch die Zeit, als in Babylon der Turm gebaut wurde. Das war noch die Zeit, als der Mensch hoch hinaus wollte und noch höher. Als er sich auf den Weg machte, Gott anstelle Gottes zu werden. Weit kam er auf diesem Weg. So weit, dass sich manche schon für Gott hielten. Da brach der Streit los. Darüber, wer von all den göttlichen Menschen denn nun der göttlichste sei. Ja, damals haben die Menschen gestritten.
Aber heute ist ja Pfingsten. Heute ist die Sprachverwirrung doch aufgelöst. Der Mensch will ja nicht mehr hoch hinaus. Er will nicht mehr sein eigener Gott sein. Stattdessen wartet er auf das, was er geschenkt bekommt. Er wartet auf den Geist, der wie der warme Frühjahrswind in den Bäumen rauscht. Heute bewegt dieser Geist die Jünger, die zu Jesus gehörten, und treibt sie aus ihrem Haus hinaus. Heute stellen sie sich auf den Marktplatz und reden über Gott, der zu den Menschen kommt. Und alle verstehen sie und alle glauben.
Warum und wieso sollte man da eigentlich über Glauben streiten? Ausgerechnet heute, wo wir davon träumen, dass alle Christen und alle Menschen eins sind. Und warum sollten wir überhaupt über Glauben streiten?
Es gibt Menschen, die können das nur zu gut. Die wissen genau Bescheid, was wie zu glauben, also: zu tun und für wahr zu halten sei. Und die sagen anderen genau Bescheid, dass die so zu glauben haben, wie sie es selber tun. Es kann ja nur den einen Glauben geben. Mit ihnen würde ich gern streiten – aber es geht ihnen ja nicht ums Streiten, sondern ums Rechthaben.
Es gibt andererseits Menschen, die sagen: Glauben ist Geschmackssache. So wie jeder seinen eigenen Geschmack hat, hat auch jeder seinen eigenen Glauben. Jeder muss für sich selbst wissen, wie er glaubt.
Mit ihnen würde ich auch gerne streiten – aber aller Streit perlt an ihnen ab. Über Geschmäcker lässt sich ja nicht streiten. Jeder Glaube ist für sie gleich gültig ist. Doch ich befürchte: Wenn er gleich gültig ist, wird er irgendwann gleichgültig.

Vielleicht muss man also über Glauben streiten. Mit jenen, denen egal ist, wie andere glauben. Und mit jenen, die wissen, wie andere glauben müssen. Um mit ihnen einen Glauben zu finden, der nicht gleichgültig, sondern ernsthaft ist. Der nicht verbohrt, sondern offen ist. Fragt sich nur wie?

Vielleicht finden wir die Antwort an einem Brunnen in Samarien. In der Mittagshitze kommt dort eine Frau zum Jakobsbrunnen, um Wasser zu holen. Das ist ungewöhnlich. Um diese Zeit geht nur zum Brunnen, wer niemandem begegnen will.
Aber die Frau begegnet einem Mann, einem Juden. Der spricht sie an: „Gib mir etwas zu trinken“, bittet er sie. Auch das ist ungewöhnlich. Nicht, dass er etwas trinken will. Aber: Ein Mann spricht keine fremde Frau an. Erst recht nicht, wenn der Mann Jude und die Frau Samaritanerin ist.
So ungewöhnlich es auch sein mag: Die Frau und der Mann kommen ins Gespräch. Und die Frau bekommt den Eindruck: Der hier mit ihr spricht, der kennt alle Geheimnisse. Der kennt die Geheimnisse des Lebens. „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben“, sagt er zu ihr. Und der kennt auch ihre Geheimnisse: Dass sie schon fünf Mal verheiratet war. Und dass sie jetzt mit einem Mann zusammenlebt, der nicht der ihre ist.

Da sagte die Frau: "Herr, ich sehe: Du bist ein Prophet! Unsere Vorfahren haben Gott auf dem Berg dort verehrt. Aber ihr behauptet, dass sich in Jerusalem der richtige Ort befindet, um Gott zu verehren!"
Da sagte Jesus: "Glaub mir, Frau: Es kommt die Stunde, in der ihr den Vater weder auf diesem Berg noch in Jerusalem verehren werdet. Ihr Samariter betet Gott an und kennt ihn nicht. Wir beten Gott an und kennen ihn. Denn die Rettung für alle Menschen kommt aus dem jüdischen Volk. Aber es kommt die Stunde, ja, sie ist schon da! Dann werden die Menschen, die Gott wirklich verehren, den Vater anbeten. Dabei werden sie vom Heiligen Geist und von Gottes Wahrheit erfüllt sein. Denn der Vater sucht Menschen, die ihn so anbeten. Gott selbst ist Geist. Und wer ihn anbetet, muss dazu vom Geist und von der Wahrheit erfüllt sein."
Da sagte die Frau zu ihm: "Ich weiß, dass der Messias kommt. Man nennt ihn auch Christus. Wenn der kommt, wird er uns über all das Auskunft geben."
Jesus antwortete: "Ich bin es. Ich, der mit dir spricht."
(Johannesev. 4,19-26 nach www.basisbibel.de).

Wir kehren vom Brunnen zurück und nehmen die Worte mit, die Jesus der Frau am Brunnen sagt. Es sind erst einmal die Worte von einem, der im Glauben Bescheid weiß. Der weiß, wie man richtig glaubt und wie man falsch glaubt. Und der das auch noch sagt: „Ihr Samariter betet Gott an und kennt ihn nicht. Wir beten Gott an und kennen ihn.“
Wie überlegen er sich anhört. Geradezu überheblich. Wenn ich die Frau am Brunnen wäre, ich hätte große Lust mit ihm zu streiten. Woher weiß er, dass er Gott kennt? Wie kommt er dazu zu behaupten, dass ich ihn nicht kenne? Er betet zu Gott und ich bete zu Gott. Er in Jerusalem, ich auf dem Berg. Aber wo ist da der Unterschied? Abgesehen vom Ort. Doch es kann ja wohl nicht am Ort liegen, ob Gott mich hört oder nicht. Ob ich Gott kennen kann oder nicht. So kann Gott doch nicht sein. Oder ist er etwa nur Gott für ein paar Ausgewählte und nicht der Gott für alle?

Doch siehe da: Als würde Jesus die stillen Einwände der Frau hören, sagt er: „Aber es kommt die Stunde, ja, sie ist schon da! Dann werden die Menschen, die Gott wirklich verehren, den Vater anbeten.“
Als die Frau am Brunnen würde ich sagen: „Also doch! Es gibt keinen Ort, der mich von Gott entfernt oder der mich ihm näher bringt. Berg oder Tempel, Jerusalem oder Samarien – das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist allein, wie nahe ich mich Gott fühle. Es hängt nicht daran, ob irgendwelche äußeren Umstände erfüllt sind. Es hängt allein daran, wie ich in meinem Inneren empfinde. Wenn ich Gott nur ernsthaft anbete, werde ich ihm nahe kommen. Glauben, das ist das, was allein zwischen Gott und mir geschieht.“

Und tatsächlich: Jesus scheint der Frau Recht zu geben. Er sagt: Wenn sie den Vater anbeten, „werden sie vom Heiligen Geist und von Gottes Wahrheit erfüllt sein. Denn der Vater sucht Menschen, die ihn so anbeten.“
Ich höre das als ein Versprechen. Es liegt Segen darauf, wenn ich mich Gott zuwende. Seinen Heiligen Geist und seine Wahrheit verspricht er mir.
Und das ist ja schon alles, was ich für meinen Glauben brauche: Ich wende mich Gott zu und finde Wahrheit. Er deckt mir das Geheimnis der Welt und den Sinn meines Lebens auf. Nur für einen winzigen Augenblick vielleicht sehe ich diese Wahrheit. Aber ich sehe sie: Ich stehe in Gottes Welt. Er schaut mein Leben freundlich an. Aus diesem winzig kleinen Augenblick nehme ich Glauben mit: Das Vertrauen, dass Gott es gut mit mir meint.
Und manchmal spüre ich auch den Geist, wenn ich mich Gott zuwende. Wie ein frischer Wind fegt er in mein Leben hinein und bewegt, was vorher ganz und gar erstarrt war. Auch das nur für einen winzig kleinen Augenblick. Aber ich weiß: Ich kann hoffen, dass Gott etwas in mir verändert.
Das Schönste aber an diesem segensreichen Versprechen: Der Vater sucht Menschen. Der Vater sucht Sie und mich, er sucht uns. Es ist ihm nicht egal, was aus uns wird. Ihm ist es nicht gleichgültig, ob wir ihm vertrauen, an ihn glauben können, ob wir zu ihm beten. Und – wer weiß – vielleicht will er sogar mit uns über unseren Glauben streiten, nur damit wir zu ihm finden.

Denn dass einer Gott findet, ist ja nicht selbstverständlich. Jesus sagt zu der Frau am Brunnen: „Gott selbst ist Geist. Und wer ihn anbetet, muss dazu vom Geist und von der Wahrheit erfüllt sein.“
Das heißt: Wer zu Gott will, braucht seinen Geist und seine Wahrheit. Und das, wo es eben noch hieß: Wer sich Gott zuwendet, der bekommt seinen Geist und seine Wahrheit.
Also: Das, was ich bekomme, muss ich haben, um es zu bekommen. Wie ein Kreis, in dem ich gefangen bin. Wenn ich Gott anbete, bekomme ich seinen Geist. Doch ich kann ihn nur anbeten, wenn ich seinen Geist habe. Fragt sich nur, wie ich jemals in diesen Geisteskreis hineinkomme: Wie soll ich anbeten, um den Geist zu bekommen, wenn ich den Geist nicht habe, um anzubeten?
Aber vielleicht sind wir ja längst drin in diesem Kreis. Vielleicht hat er sich längst um uns geschlossen. Wir sind längst umgeben vom Geist. Schließlich weht er, wo er will. Wir können gar nicht anders, als uns im Geist Gott zuzuwenden. Bevor wir überhaupt anfangen, uns Gott zuzuwenden, ist Gottes Geist schon längst da. Wenn wir die Ohren öffnen, hören wir sein Rauschen. Wenn wir unser Herz fühlen können, spüren wir sein Feuer auf uns brennen.

Wenn, ja wenn: Die Frau am Brunnen ist begeistert von dem fremden Mann, der mit ihr spricht. Sie ist begeistert vom dem, was er ihr sagt. Auch wenn sie vielleicht nicht alles versteht. Aber das macht nichts. Sie spürt: Es ist wichtig und richtig, was er sagt. Er sagt es zu mir. Er meint mich.
Und so lässt sich gut vom Glauben reden – und auch über ihn streiten. Wenn ich es so tue, dass der andere merkt: Es geht mir nicht darum, Recht zu haben. Sondern es geht mir um ihn. Und wenn ich es so tue, dass der andere merkt: Es ist mir nicht egal, was er glaubt. Sondern ich will ihn für meine Wahrheit gewinnen. Und dann, dann kann er sich vielleicht auf meine Wahrheit einlassen. Wenn der Geist weht.

Ob die Frau am Brunnen den Geist spürt, sein Rauschen hört? Sie spielt auf Zeit: Sie weiß: Irgendwann wird der kommen, der den Geist und die Wahrheit bringt. Dann werde ich das alles im Innersten verstehen, was ich jetzt nur ahne.
Sie sagt Jesu: „Ich weiß, dass der Messias kommt. Man nennt ihn auch Christus.“ Und Jesus antwortet: „Ich bin es. Ich, der mit dir spricht.“
Da steht der Messias vor ihr – und sie erkennt ihn nicht. Manchmal ist das so: Wir sind blind und taub für die Wahrheit. Vielleicht weil wir sie dort nicht vermuten, wo sie uns findet. Oder weil sie anders aussieht, als wir erwarten. Aber Gott sei Dank. Er gibt sich zu erkennen.

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