Der erste Stein und das Licht dieser Welt

Wir sind in Jerusalem, im Tempel. Hier ist der Ort, wo Gott zu Hause ist. Es ist früh am Tag. Und doch sind schon viele Menschen da. In der Kühle des Morgens suchen sie die Nähe Gottes. Dort hinten empfängt ein Priester eine Familie. Ein junges Paar kommt zum ersten Mal mit dem frischgeborenen Sohn zum Tempel. Alle Verwandten begleiten sie. Einer von ihnen trägt ein Lamm auf dem Arm, das leise blökt.
Ganz in der Nähe bilden viele Menschen einen Kreis. Dicht gedrängt stehen sie. Einer stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. In der Mitte des Kreises sitzt ein Mann auf dem Boden. Er redet zu den Menschen, die um ihn stehen. Gebannt hören sie ihm zu. Er schaut allen ins Gesicht.
„Lasst uns durch“, sind da Stimmen zu hören. „Wir müssen zu ihm.“ Der Kreis öffnet sich widerwillig.

Da führen die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau herbei, die beim Ehebruch ertappt worden ist.

In der Frau wirbeln die Gefühle und Gedanken durcheinander. Angst hat sie. Angst, vor dem, was nun kommt. Sie spürt die Wut der Männer, die sie hierher geschleift haben. Sie sieht die Neugier und die Lust in den Blicken, die sie treffen. Wenn sie doch nur fliehen könnte. Wenn doch das alles nur ein böser Traum wäre.
Sie versucht ihr Gesicht zu verbergen. Sie schämt sich für das, was sie getan hat. Sie wollte es nicht so weit kommen lassen. Sie hat sich lange gewehrt. Aber irgendetwas in ihr war stärker. Dem hat sie nachgegeben. Und das sagt auch jetzt noch: Es war schön mit ihm.
Sie sieht ihren Mann vor sich. Er weiß von all dem noch nichts. Und ihre Kinder. Was wird aus ihnen. Aus ihrer Familie? Wie soll sie erklären, was geschehen ist? Sie möchte sie nicht verlieren. Sie möchte zu ihnen zurück. Wenn das hier vorbei ist. Und wenn sie sie dann noch in die Arme nehmen mögen.

Die Schriftgelehrten und Pharisäer stellen die Frau in die Mitte. Einer der Schriftgelehrten sagt zu dem Mann, der dort immer noch sitzt: „Lehrer, diese Frau da wurde auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. Im Gesetz schreibt uns Mose vor, eine solche Frau zu steinigen. Was sagst du denn dazu?“

Der Schriftgelehrte ist sehr zufrieden mit sich und dem, was geschieht. Er schaut sich um. Gut, dass so viele da sind und das hier mitbekommen.
Zwei Fliegen mit einer Klappe können sie schlagen. Sie werden gleich die Frau steinigen. Das ist gar keine Frage. So steht es im Gesetz. Und die Menschen hier werden merken, wie ernst es ist mit dem Gesetz. Es ist ein heiliges Gesetz. Gott hat es Mose gegeben. Wer das Gesetz bricht, bricht mit Gott. Und wer mit Gott bricht, der muss sterben.
Das muss auch dieser Mann vor ihm so sehen, von dem alle sagen, er sei ein Mann Gottes. Das kann er jetzt zeigen. Er muss sich einfach auf die Seite Gottes stellen, auf die Seite des Gesetzes. Er muss die Frau verurteilen. Er muss den ersten Stein werfen.
Und wenn er das nicht tut? Wenn er sich auf die Seite der Frau stellt? Dann stellt er sich doch auch gegen das Gesetz. Und gegen Gott. Und dann, dann kann keiner mehr von ihm sagen, er sei ein Mann Gottes. Dann hat er sich selber entzaubert.

Aber der Mann in der Mitte, Jesus, beugt sich nur nach vorn und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Als sie nicht aufhören zu fragen, richtet er sich auf und sagt zu ihnen: „Wer von euch ohne Schuld ist, soll den ersten Stein auf sie werfen.“ Dann beugt er sich wieder nach vorn und schreibt auf die Erde. Als sie das hören, geht einer nach dem anderen fort, die Älteren zuerst.

Der Schriftgelehrte, der eben noch so zufrieden war, geht. Er stapft fort. Die unterdrückte Wut ist ihm anzusehen. Sie kocht in ihm. Er weiß gar nicht, auf wen er zuerst wütend sein soll.
Auf Jesus, sicher. So leichtfüßig hat der die Falle umgangen. Er hat ihm einfach den Stein in die Hand gedrückt. Wenn du ohne Schuld bist, dann wirf doch den Stein. Als ob es um seine Schuld ginge. Es geht doch um die Schuld der Frau. Und um Gottes Gesetz. Das muss doch einer durchsetzen.
Er ist auch wütend auf die anderen. Auf die, die als erste den Stein fallen gelassen und sich davon geschlichen haben. Dass sie sich so einfach einschüchtern lassen von Jesus. Dass sie ihm nicht die Stirn bieten. Wieder geht der als Sieger vom Platz. Sehr zur Freude der vielen, die wie immer nur zuschauen.
Und wütend ist er auch auf sich. Dass er auch den Stein hat fallen lassen. Dass ihm, kaum hat Jesus seine Frage gestellt, ein Bild aufgestiegen ist: Jener Abend, an dem er sich von Zuhause fort geschlichen hatte, um sich mit Deborah zu treffen. Nein, die Ehe hatte er nicht gebrochen. Zumindest nicht im Sinne des Gesetzes. Aber jetzt brennt er auf seinem Mund, der zarte Kuss, den sie sich zum Abschied gaben.

Jesus bleibt allein zurück mit der Frau, die immer noch dort steht. Jesus richtet sich auf und fragt: „Frau, wo sind sie? Hat dich niemand verurteilt?“ Sie antwortet: „Niemand, Herr.“ Da sagt Jesus: „Ich verurteile dich auch nicht. Geh! Aber tue von jetzt an kein Unrecht mehr!“

Und die Frau geht. Zögerlich setzt sie einen Fuß vor den anderen. Sie stößt an die Steine, die dort liegen. Die sie auf sie werfen wollten. Sie ist tatsächlich frei. Sie ist frei gesprochen. Das Todesurteil, das über ihr schwebte: Weggewischt. Sie sollte sich freuen, tanzen, jubeln. Diesem Mann die Füße küssen, der sie freigesprochen hat.
Sie hat sich noch nicht einmal bei ihm bedankt. So überrascht ist sie. Und so unsicher. Sie geht jetzt nach Hause. Zu ihrem Mann, zu ihren Kindern. Wo sollte sie sonst hingehen? Aber kann sie dort hingehen? Wie werden sie sie empfangen? Die Nachbarn, die sich das Maul zerreißen werden. Die Schwiegermutter, die immer auf ihre Fehler lauert. Die Kinder, die das alles mit dem Kopf nicht verstehen. Aber mit dem Herzen sehr wohl. Und ihr Mann, dessen Vertrauen sie gebrochen hat.
Sie möchte ihm sagen, wie leid es ihr tut. Wie sehr sie sich schämt. Sie möchte ihn bitten, dass sie neu miteinander anfangen. Aber wird er sie hören? Kann er sie auch freisprechen? So wie dieser Jesus sie freigesprochen hat?

Dieser Jesus, er spricht wieder zu den Leuten. Er sagt: „Ich bin das Licht dieser Welt. Wer mir folgt, tappt nicht mehr im Dunkeln. Er wird das Licht des Lebens haben.“

Das ist das Letzte, was wir hören und sehen, dort im Tempel, am frühen Morgen. So wie es die Geschichte aus dem achten Kapitel des Johannes-Evangeliums erzählt. Und wie Jesus über sich sagt: „Ich bin das Licht dieser Welt.“

Und tatsächlich: So wie Jesus der Frau und dem Schriftgelehrten begegnet, bringt er das Licht zum Leuchten. Für einen Augenblick jedenfalls scheint es über dem Leben der Frau und über dem Leben des Schriftgelehrten. Und womöglich, hoffentlich geht beiden sein Licht auf.
Für den Schriftgelehrten wird das nicht nur angenehm sein. In dem Licht erkennt er sich selber. Ganz klar sieht er sich und sein Leben. „Wer von euch ohne Schuld ist“, sagt Jesus zu ihm. Und stößt den Schriftgelehrten auf seine Schuld. Eben noch trägt er das heilige Gesetz Gottes vor sich her.
Im nächsten Augenblick muss er sehen: Das Gesetz spricht auch über ihn sein Urteil. Vielleicht versucht der Schriftgelehrte sich herauszuwinden: Es war ja nur ein Kuss. Vielleicht gelingt es ihm aber auch, ehrlich zu sein mit sich und mit Gott. Und dann muss er sich und ihm eingestehen, dass er beides immer wieder bricht: Das heilige Gesetz Gottes. Und das Vertrauen, das Menschen in ihn setzen.
Wenn er sich so sehen kann, dann erscheint ihm womöglich auch die Frau in einem anderen Licht. Nicht, dass er jetzt den Ehebruch gut findet oder Verständnis für ihn aufbringt. Der Ehebruch bleibt ein Bruch. Des Vertrauens, das ihr Mann und ihre Kinder in sie setzen. Des Gesetzes Gottes. Aber das Urteil spricht er nicht mehr über die Frau, sondern über ihr Tun. Was die Frau getan hat, war und bleibt falsch. Aber die Frau ist nicht falsch. Sie hat schlecht gehandelt, aber sie ist nicht schlecht. Also darf sie leben.

Das ist auch das Licht, das Jesus in das Leben der Frau bringt: Sie darf leben. Er verurteilt sie nicht. Er spricht sie frei von ihrer Schuld. Die Frau erkennt womöglich, hoffentlich genau das: Jesus macht einen Unterschied zwischen dem, was sie getan hat, und dem Menschen, der sie ist. Was sie getan hat, lehnt er ab. Sie soll es, darf es nicht wieder tun. Aber er wendet sich ihr zu, die es getan hat. Er schaut sie freundlich an. Er traut ihr zu, dass sie anders handeln kann. Er schickt sie zurück in ihr Leben. Sie soll, kann es neu und anders leben.
Doch darin ist das Licht auch grell und unangenehm. Die Frau erkennt genau, was sie getan hat. Sie sieht, was sie zerbrochen hat. Das bleibt. Das kann sie nicht einfach wegwischen. Es wird noch eine ganze Zeit zwischen ihr und ihrem Mann und ihren Kindern stehen, was sie ihnen und sich angetan hat. Es wird immer zu ihrer Familie und in ihr Zusammenleben gehören.
Vergeben heißt nicht vergessen. Vergeben heißt: zu trennen zwischen dem, was einer getan hat, und dem Menschen, der er ist. Und dann wieder und neu miteinander anzufangen.

Die Frau und der Schriftgelehrte: Ich kenne sie beide. Mal bin ich die eine. Mal bin ich der andere. Mal breche ich Vertrauen und lade Schuld auf mich. Mal zeige ich mit dem Finger auf die Schuldigen und nehme einen Stein in die Hand.
Aber ob ich nun gerade die eine bin oder der andere: Das Licht dieser Welt scheint über mir. Wenn ich hinschaue, dann kann ich es erkennen: Gott trennt zwischen dem, was ich tue, und dem, der ich bin. Er spricht mich frei, zu leben. Und ich lerne, es genau so zu tun: Zu unterscheiden zwischen dem, was einer tut, und dem, der er ist. Um immer wieder neu miteinander anzufangen. So werden wir gemeinsam das Licht des Lebens haben.

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