Ein Wunder, das für alle reicht

Wunder geschehen ja bekanntlich immer wieder. Wie wäre es, wenn wir es einmal darauf ankommen ließen? Auf der Nordseite unserer Kirche liegt eine große Wiese brach. Da könnten wir gemeinsam hingehen, wenn wir mit dem Gottesdienst fertig sind. Wir könnten auch noch etwa 4.900 Menschen dazu einladen. Die fänden auf der Wiese jedenfalls auch noch Platz. Und dann könnten wir fünf Brote und zwei Fische nehmen. Und dann mal sehen, was passiert. Vielleicht würden wir ja tatsächlich alle satt und könnten am Ende noch zwölf Körbe mit Brot einsammeln. Wunder geschehen ja bekanntlich immer wieder.

Natürlich werden wir das nicht tun. Keiner von uns hält sich für Jesus.
Aber stellen Sie sich vor, wir täten es doch. Wir gingen mit 5.000 Menschen auf die Wiese. Und das Wunder würde dann geschehen. Wir und die 4.900 anderen würden auf der Wiese satt werden.
Ich unterstelle, dass viele von Ihnen misstrauisch würden. Die Sache müsste irgend einen Haken haben. Vielleicht den, dass es bereits vor dem Gottesdienst eine Verabredung mit den Inselbäckern gegeben hätte. Auf eine SMS hin würden sie kommen und ausreichend Brot für 5.000 Menschen liefern. Ein gut vorbereitetes Wunder, das deshalb gar keines wäre.
Eine ganze Zeit lang haben Ausleger der Wundergeschichten tatsächlich versucht, die Wunder so zu erklären. Ganz vernünftig, wie man so schön sagt. In unserem Fall also etwa: Die Brotvermehrung sei perfektes frühzeitliches Catering. So, wie man heute in weniger als einer Stunde Flugzeuge mit Essen für ein paar hundert Menschen bestückt. Die Jünger hätten damals eben einen Riesenberg Nahrung herangeschafft und versteckt, um das alles dann wie von Zauberhand hervorzuholen und unter die Menge zu verteilen.
Aber das kann es doch nicht sein, oder? Das wäre doch fauler Zauber in Reinkultur.

Doch womöglich würde uns das Wunder auch ohne doppelten Boden und SMS an die Inselbäcker gelingen. Wenn wir dort säßen auf der Wiese.
Wie durch ein Wunder hätte vielleicht der eine von Ihnen zwei Äpfel dabei, der andere zwei Brötchen. Und dann würden Sie beginnen zu teilen. Die etwas hätten, würden denen etwas abgeben, die nichts haben. Und jeder würde sich mit einem kleinen Bissen bescheiden. Und siehe da: Es würde reichen. Mehr noch als das. Am Ende würde jeder noch etwas mit nach Hause nehmen. Und von dem Wunder von Nieblum erzählen.
Dem Wunder des Teilens. Auch so wurde versucht zu erklären, wie 5.000 Menschen von fünf Broten und zwei Fischen satt wurden. All die Menschen damals hatten doch bestimmt irgendetwas Essbares dabei: einen Kanten Brot oder ein Stück Trockenfisch. Wenn man das nun alles zusammennimmt, dann konnten doch alle davon satt werden. Und am Ende blieb eine Menge übrig.
Das ist eine schöne Deutung. Eine, aus der wir eine Menge für unsere Welt lernen können. Wie sehr das Teilen hilft. Oder helfen würde, wenn wir es denn besser könnten und von ganzem Herzen wollten.
Dazu drei Zahlen: 7 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Für 12 Milliarden Menschen reichen die Lebensmittel, die hergestellt werden. Eine Milliarde Menschen hat nicht genug Lebensmittel, um den täglichen Energiebedarf zu decken. Wenn wir teilten, ach was, wenn wir nur ein wenig besser verteilten, dann könnten alle Menschen satt werden.

Das Wunder kann ich so deuten. Aber es ist dann kein Wunder mehr, sondern eine Anklage.
Es klagt die Menschen an, die eben nicht teilen. Es klagt uns an, die wir hier im reichen Norden sitzen. Da mögen wir noch so oft sagen: Wir können daran nichts ändern. Wir bleiben doch Nutznießer eines Systems, in dem die einen zu wenig zum Leben haben und die anderen am Überfluss ersticken. Wir bleiben Einwohner eines Landes, das die Grenzen dicht machen will, damit die, die hungern, draußen bleiben.
Und das Wunder klagt auch Gott an, der nichts tut. Der das kleine Wunder der Speisung der 5.000 nicht im Großen als Speisung der Milliarde wiederholt. Der nicht dafür sorgt, dass kein Mensch hungert. Da können wir noch so oft sagen, das sei Sache des Menschen. Es bleibt die Frage: Wie kann Gott das zulassen? Wo bleibt das Wunder für die, die wirklich hungern?

Der Skandal des Hungers macht das Wunder schwer verdaubar.
Vielleicht ist es deshalb besser, nach einer anderen Lesart des Wunders suchen. Nach einer, die weggeht von der Frage, wie es wohl möglich war, dass 5.000 Menschen von fünf Broten und zwei Fischen satt wurden.
Also noch einmal die Geschichte von der Speisung der 5.000.

Die Apostel kehrten zu Jesus zurück. Sie berichteten ihm, was sie getan hatten. Dann nahm er sie mit sich. Er brachte sie in die Gegend bei der Stadt Betsaida, um mit ihnen allein zu sein.
Als die Leute davon erfuhren, zogen sie ihm nach. Jesus wies sie nicht ab. Er erzählte ihnen vom Reich Gottes und machte alle gesund, die Heilung brauchten.
Als es Abend wurde, kamen die Zwölf zu Jesus und sagten: "Lass doch die Volksmenge gehen. Dann können die Leute zu den umliegenden Dörfern und Höfen ziehen. Dort finden sie eine Unterkunft und etwas zu essen, denn wir sind hier in einer einsamen Gegend."
Jesus antwortete ihnen: "Gebt doch ihr ihnen etwas zu essen!"
Da sagten sie: "Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische. Oder sollen wir etwa losgehen und für das ganze Volk etwas zu essen kaufen?" Es waren nämlich ungefähr fünftausend Männer.
Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: "Sorgt dafür, dass sich die Leute zum Essen niederlassen in Gruppen zu etwa fünfzig."
So machten es die Jünger und alle ließen sich nieder. Dann nahm Jesus die fünf Brote und die zwei Fische. Er blickte zum Himmel auf und sprach das Dankgebet dafür. Dann brach er sie in Stücke und gab sie den Jüngern. Die sollten sie an die Volksmenge austeilen.
Die Leute aßen, und alle wurden satt. Dann wurden die Reste eingesammelt, die sie übrig gelassen hatten, zwölf Körbe voll.

(Lukasevangelium 9,10-17 - www.basisbibel.de)

So also erzählt Lukas seine Fassung von der Geschichte, wie das Wenige für die Vielen reicht.
Er beginnt damit, dass die Jünger zurück zu Jesus kommen. Sie waren in seinem Auftrag unterwegs. Er hatte sie losgeschickt, in seinem Namen Liebe zu predigen und Kranke zu heilen. Das hatten sie getan und waren dabei erfolgreich.
Nun kommen sie zurück, voller Erlebnisse, die sie mit Jesus teilen wollen. An einen Ort wollen sie sich zurückziehen, wo sie mit Jesus allein sind. Doch den gibt es nicht: Wo Jesus ist, sind auch Menschen, die etwas von ihm wollen. Die nach guten Worten hungern und nach Gottes Segen für ihr Leben.
Die Menge drückt, die Menge drängt. Es sind so viele ? wie schön wäre es, sie endlich einmal los zu sein. Zumal sich der Tag neigt: Jetzt ist Zeit, sie wegzuschicken, um allein zu sein und ohne die Verantwortung für all die Menschen. So denken, so hoffen die Jünger. Doch Jesus spielt ein anderes Spiel: Er entlässt die Menge nicht nach Hause und die Jünger nicht aus der Verantwortung. ?Gebt ihr ihnen zu essen.?
Die Aufgabe ist den Jüngern zu groß. Sie schauen auf das, was sie haben ? es reicht nicht hinten und nicht vorne. Wie sollen sie 5.000 Menschen satt machen? Sie stehen ratlos da ? und beschämt, als Jesus die Sache in die Hand nimmt. Weil die Jünger es nicht richten könne, muss er es eben selber machen. Zumindest das Entscheidende muss er tun.
Für die Hilfsarbeiten setzt er die Jünger ein. Sie teilen die unüberschaubare Menge in kleinere Gruppen auf. In überschaubare Kreise, wo einer den anderen kennt, wo die große Masse plötzlich unterscheidbare Gesichter bekommt. Und die Jünger teilen das Brot und die Fische aus, sie teilen ein Übermaß aus. Das Wenige, was sie haben, reicht für 5.000 Menschen ? und es hätte noch für viel mehr gereicht.
Weil es von Gott kommt: Das Wenige, was sie haben, vertrauen sie Jesus an und erhalten es verwandelt von ihm zurück. Plötzlich ist das Wenige viel, mehr als genug sogar. Ein Übermaß an Segen, der die Menschen satt macht.

So erzählt Lukas die Wundergeschichte seiner Gemeinde. Den Menschen in dieser Gemeinde geht es vielleicht wie den Jüngern. Sie wären gern allein, hätten gern an sich und ihrem Glauben genug. Aber Lukas sagt ihnen: ?Da sind noch so viele, die euren Glauben brauchen und wollen. Gebt ihnen davon. Macht sie satt.?
Und Lukas scheint mit ihrer Reaktion zu rechnen: ?Wie sollen wir sie satt machen? Mit dem Wenigen, das wir haben? Unser Glaube reicht höchstens für uns, aber nie und nimmer für alle.?
?Ihr irrt?, sagt Lukas ihnen, ?euer Glaube ist nicht euer Glaube ? er kommt von Gott. Gott schenkt ihn euch, euren Glauben. Empfangt ihn von ihm, dankt ihm für sein Geschenk ? und gebt es weiter. Ihr könnt es weitergeben, denn Gottes Geschenk an euch ist so groß, dass es für alle reicht. Das ist das Wunder: Dass euer Glaube, der euch klein und schwankend erscheint, für alle reicht ? weil ihr ihn von Gott bekommt und in seinem Namen und mit seiner Macht weitergebt.?

So erzählt Lukas die Wundergeschichte seiner Gemeinde. So können wir sie hören.
Manchmal scheint es mir vielleicht dünn und dürftig, was mich in meinem Leben trägt: Das Bisschen Glauben, das ich habe, dass Gott mich durch mein Leben begleitet, durch die schweren und dunklen Stunden hindurch und in den hellen, lichten Tagen. Das kleine Bisschen Liebe, das ich in mir trage, das kaum reicht, anderen Menschen offen und freundlich begegnen oder mit mir selber und meinen Fehlern barmherzig zu sein. Das kleine Bisschen Hoffnung, das mich bewegt, dass der Tod dem Leben eine Grenze setzt, die ich überwinden werde, dass eine Welt auf mich wartet, die ganz nach Gottes Geschmack ist.
Manchmal scheint mir das vielleicht so dünn und dürftig ? und doch ist es ein Geschenk. Das kleine Bisschen Glaube, Liebe und Hoffnung, das jeder von uns trägt, das haben wir nicht aus uns. Wir haben es von Gott.
Und es wird mehr und mehr, wenn wir es ihm anvertrauen ? wenn wir darauf vertrauen, dass wir von ihm mehr als genug bekommen.
Wir bekommen von Gott so viel, dass wir es andere Menschen spüren lassen können: Wie wir zuversichtlich durch unser Leben gehen, weil Gott uns mit seinem Segen begleitet. Wie wir einander liebevoll anschauen, weil Gott uns liebevoll anschaut. Wie wir über den Tod hinaus hoffen, weil unsere Zukunft bei Gott liegt.
Wenn wir das bisschen annehmen, was wir haben. Wenn wir Gott dafür danken. Dann geschieht vielleicht, hoffentlich das Wunderbare, über das allein Gott verfügt: Dass der Segen, den er uns schenkt, für alle reicht. Dass das Bisschen Glaube, Liebe und Hoffnung, das wir in uns tragen, alle satt macht.
Doch das eigentliche Wunder beginnt vorher: Bei unserem Bisschen Glaube, Liebe und Hoffnung. Jeden Tag neu. Denn Wunder geschehen ja bekanntlich immer wieder. Wie wäre es, wenn wir es einmal darauf ankommen ließen?

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