Sehnsuchtsorte

Föhr ist ein Sehnsuchtsort. Das habe ich gelernt in den vier Monaten, die wir jetzt auf der Insel mitten in der friesischen Karibik sind.
Föhr ist ein Sehnsuchtsort für viele Urlauber. So habe ich hier alte Nachbarn wieder getroffen aus der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Seit dreißig Jahren kommen sie Sommer für Sommer hierher nach Nieblum. Anfangs waren ihre Kinder – sie sind in etwa in meinem Alter – noch Kinder. Jetzt begleiten sie die Eltern mit ihren eigenen Kindern.
Föhr ist aber auch ein Sehnsuchtsort für die Amerikafahrer unter den Föhrern. Viele sind in den 50er und 60er Jahren wenigstens für einige Zeit Jahre dort gewesen. Die einen sind wieder hier. Die anderen sind noch dort, und doch regelmäßig zu Besuch hier. Erst vorgestern stand ein solches Paar bei mir im Pastorat.
Gerade an diesen Sommertagen kann ich die Urlauber und die Amerikafahrer gut verstehen. Die grüne Marsch, das glitzernde Watt, der blaue Himmel – Föhr ist ein Sehnsuchtsort.

Das verbindet Föhr mit dem Jerusalem zur Zeit des Alten Testamentes. Jerusalem ist ein Sehnsuchtsort. Die Stadt ist es für die Menschen aus dem Volk Israel, die in der Diaspora, in der Fremde leben müssen.
Im Jahr 586 vor Christus besetzen die Babylonier das Land und legen Jerusalem in Trümmer und zerstören den Tempel. Sie verschleppen viele Menschen nach Babylon, andere fliehen nach Ägypten oder Mesopotamien. Für sie wird Jerusalem der Sehnsuchtsort. Wenn sie erst wieder in Jerusalem wären, dann würde alles gut.
In dieser Zeit tritt in Babylon unter den dorthin Vertriebenen ein Mann auf, dessen Namen wir nicht kennen, den wir aber den zweiten Jesaja nennen. Die Worte dieses Propheten stehen im Buch des Propheten Jesaja. Das ist es, was er den Vertrieben von ihrem Gott ausrichtet:

Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
(Jesaja 43,1-7, www.die-bibel.de)

Es geht zurück an den Sehnsuchtsort. Das ist die Botschaft des zweiten Jesaja.
Sie hat eine durchaus weltpolitische Ursache: Der Stern der Großmacht Babylon sinkt. Ein neuer Stern steigt am Machthimmel auf: Kyros, der Perserkönig. 539 vor Christus werden seine Truppen in Babylon einmarschieren und Nabonid, den König der Babylonier gefangen setzen. Die Herrschaft der Babylonier wird enden und die Herrschaft der Perser wird beginnen.
Die Babylonier setzen auf Vertreibung und Unterdrückung, um ihre Herrschaft zu sicher. Kyros dagegen geht davon aus: Je besser es den besetzten Ländern geht, desto bessere Untergebene werden sie sein. Und so werden die Israeliten unter dem Perserkönig nach Jerusalem, an ihren Sehnsuchtsort, zurückkehren dürfen. 537 vor Christus werden sich die ersten von ihnen auf den Weg machen.

Noch ist es nicht so weit. Aber der zweite Jesaja kündigt es schon an. Und er wäre kein Prophet, wenn er in den weltpolitischen Vorgängen nicht Gott am Werk sähe. So sagt er, dass Gott sagt:
„Fürchte dich nicht, Israel, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde.“
Wenn es bald zurückgeht nach Jerusalem, dann liegt das vielleicht auch daran, dass sich die Machtverhältnisse verschieben zwischen Babylon und dem Perserreich. Es liegt aber vor allem daran, dass Gott es will. Er will seine Kinder zurückbringen nach Israel und Jerusalem, an ihren Sehnsuchtsort.
Und mehr noch: Er zieht dafür die Fäden in der großen Weltpolitik. So sagt der zweite Jesaja, dass Gott sagt:
„Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner Statt.“
Dass Israel seine Freiheit wieder gewinnt, das liegt an der neuen Machtpolitik im großen Perserreich. Das liegt daran, dass Kyros und seine Nachfolger das Reich ausdehnen bis nach Ägypten, bis ins heutige Eritrea und den Sudan. Israel wird ein Teil dieses riesigen Reiches – und findet in ihm seine Freiheit.
Aber das geschieht, weil Gott es so einrichtet. Er macht Kyros zum neuen Weltenherrscher. Er dehnt das Perserreich so weit aus, damit sein Volk seine Freiheit wiederfindet und zurück kann an seinen Sehnsuchtsort.
Der Weg dahin, der wird noch steinig sein. Er birgt seine Gefahren. Aber Gott wird ihn mit seinem Volk gehen. So sagt der Prophet, dass Gott sagt:
„Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.“
Was auch den Menschen geschehen mag, ihnen kann nichts geschehen – weil Gott da ist, bei ihnen.

Darauf kommt es an, darum geht es. Gott ist da. Aber wie darauf vertrauen, mitten im fremden Land, fern vom Sehnsuchtsort Jerusalem?
Es gibt noch genug Gründe, daran zu zweifeln. Der Alltag in Babylon spricht dagegen. Das Gefühl, in der Fremde zu sein, spricht dagegen. Und die bohrende Frage, wieso Gott zugelassen hat, dass die Menschen aus Jerusalem vertrieben und der Tempel zerstört wurde.
Der Prophet führt dagegen nur ein Argument an. So sagt der zweite Jesaja, dass Gott sagt:
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein. Weil du in meinem Augen so wertgeachtet und auch herrlich bist und weil ich dich liebhabe. So fürchte dich nun nicht, ich bin bei dir. Ich bin bei allen, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“
Diese Worte sind kein Argument, sondern ein trotziges Dennoch: Gott ist da. Auch wenn ihr nicht merkt, dass er mit euch geht. Dennoch: Ihr gehört zu Gott. Auch wenn ihr meint, er hätte euch vergessen. Dennoch: Ihr seid Gottes Menschen.
Ob das so ist, das mögen sich die Israeliten noch fragen. Für den zweiten Jesaja ist es längst keine Frage mehr. Denn Gott hat sein Volk Israel bei dessen Namen gerufen.
Israel, der Name hat seine Bedeutung: „Gott wird herrschen“. Genau das kündigt der Prophet auch an: Gott wird herrschen. Über die Babylonier und über die Perser – damit sein Volk in die Freiheit findet.
Er ruft sein Volk bei dessen Namen. Das heißt noch mehr: Er spricht es an. Er wendet sich ihm zu. Er kennt es. Er weiß um seine Sorgen und Hoffnungen. Er weiß, dass er für es Verantwortung trägt.
Der zweite Jesaja sagt auch: Gott hat seine Söhne und Töchter bei seinem eigenen Namen genannt. Sie alle tragen den Namen Gottes. Und der heißt: Ich bin da. Ich bin für euch da. Ich bin es von allem Anfang gewesen und ich werde es weiter sein.
Der Prophet sagt, dass Gott sagt: „Ich habe euch euren Namen gegeben. Und ihr tragt meinen Namen. Ihr gehört zu mir. Ich bin bei euch.“

Um das zu glauben, braucht das Volk Israel seinen Sehnsuchtsort. Dafür braucht es die Stadt Jerusalem. Die Stadt ist der Ort, an dem Gott nah ist. Der Tempel ist die Stätte, von der Gott gesagt hat: „Da soll mein Name sein.“ Der, den Himmel und Erde nicht fassen können, weil er sie geschaffen hat – der wird in Jerusalem, im Tempel für seine Menschen spürbar.
Deswegen sind die Stadt und der Tempel der Sehnsuchtsort. Die Sehnsucht nach Jerusalem und nach dem Tempel ist immer auch die Sehnsucht nach Gott und seiner Nähe.
Und das macht die Worte des Propheten so groß, so wunderbar: Gott wird seine Menschen zurückbringen zu sich. Sie werden wieder seine Nähe erfahren.
Der Prophet verspricht das. Und er kann das nur versprechen, weil Gott schon längst nahe ist. Auch fern des Sehnsuchtsortes ist er nah. Nur weil er dort schon nahe ist, kann er seine Menschen zum Sehnsuchtsort zurückbringen.

Ob Föhr im Allgemeinen und unser Friesendom im Besonderen auch so ein Sehnsuchtsort sein können?
Nach einem der ersten Konzerte in diesem Sommer sprach mich eine Frau an. Eine, die seit mehr als einem Jahrzehnt hierher kommt. „Ich muss es einfach einmal jemandem sagen“, sagte sie. „Was für eine Kraftquelle diese Konzerte hier für mich sind. Jedes Jahr hole ich mir hier Kraft für meine Arbeit als Ärztin, für meinen Alltag. Es ist ein Fixpunkt in meinem Leben geworden.“
So ähnlich erlebte ich es bei einer Taufe im uralten Taufstein. Getauft habe ich einen Täufling, der auf dem Festland wohnt. Aber die Mutter war hier getauft. Und die Oma war hier getauft. Also musste auch der kleine Sohn und Enkel hier getauft werden. An diesem Ort, mit dem sich für die Oma und die Mutter verbindet, dass Gott nahe ist. Damit Gott hier auch den Jungen bei seinem Namen ruft und er hier auf den Namen Gottes getauft wird.
Ja, die Insel und St. Johannis können so ein Ort sein, an dem ich das spüre: Ich gehöre zu Gott, denn er ruft mich bei meinem Namen. Gott ist bei mir, denn er hat mich mit seinem Namen genannt.
Wie auch andere Orte zu solchen einem Sehnsuchtsort werden können. Zu einem Ort, an dem der Name Gottes wohnt und ich in Gottes Nähe eintauchen kann.
Wohl dem, der einen solchen Sehnsuchtsort hat. Der immer wieder an ihn zurückkommen kann, weil Gott ihn dorthin zurückbringt.

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