Ein Blinder sieht das Licht

Es ist die Geschichte seines Lebens. Er muss sie erzählen. Immer wieder. Weil das, was er erlebte, nach außen drängt. So erzählt er:
„Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn mir auf die Augen. Dann sagte er zu mir: 'Geh zu dem Wasserbecken von Schiloach und wasche dich.' Ich ging dorthin, und als ich mich gewaschen hatte, konnte ich sehen.“
(Johannesevangelium 9,11 - www.basisbibel.de)

Das ist Jahre her. Wer ihn heute sieht, der kommt nicht auf den Gedanken, dass er jemals blind gewesen sein könnte. Auch die, die ihn von kleinauf begleitet haben, vergessen es manchmal: Blind wurde er geboren.
Er selber hat es nicht vergessen. Jedes Mal, wenn er die Augen schließt, erinnert er sich an das Dunkel, in dem er über Jahre saß. Manchmal macht er sich sogar einen Spaß daraus und bewegt sich mit geschlossen Augen durch die Straßen. Er kennt sich immer noch blind in ihnen aus. Er weiß noch wie viele Schritte es von seinem Haus bis zur nächsten Straßenecke sind, wo eine Wasserrinne die Straße quert. Er spürt auf seiner Haut, wie hoch die Sonne steht und wie spät es ungefähr sein muss. Er hört, mit wie viel Mann die römische Patrouille an ihm vorüberreitet.
Er kann es noch, im Dunkeln leben. Aber er ist dankbar, dass er die Freiheit hat, es aus Spaß zu tun. Und jederzeit, wenn er es will, die Augen zu öffnen. Dann sieht er wieder neu, so wie er damals die Welt sah, als er die Augen öffnete. Er weiß noch, was er als erstes sah: Seine Fingerspitzen, die er von den Augen nahm. Verschwommen vom Wasser, das in seinen Wimpern hing. Das Glitzern der Sonne im Wasserbecken, das ihn blendete. Schnell musste er die Augen wieder schließen. Und sie wieder öffnen. Da war alles noch da, was er noch nie gesehen hatte: Das Licht, die Farben, die Weite.
Das war an jenem Tag, an dem er in der Nähe des Tempels saß. An seinem Platz, an dem jeden Tag viele Menschen vorüberkamen. Er hörte an ihren Schritten, ob es die Nachbarn waren, die Soldaten, die Priester. Oder Pilger, die aus dem ganzen Land in die Stadt Gottes kamen.
Gerade ihnen hielt er seine Hand hin. Und er wusste, dass er dabei den Kopf gesenkt halten musste. Einmal hörte er, wie einer flüsterte: „Den Blick seiner toten Augen kann ich nicht ertragen.“ Dann lief er fort. Aber wenn er mit seinen toten Augen nach unten schaute, dann blieben sie stehen und legten eine Münze in seine Hand.

So war das auch an diesem Tag. Da kam wieder eine Gruppe vorbei. Fünfzehn, zwanzig Menschen. Sie kamen aus dem Tempel. Vor ihm blieben sie stehen. Er streckte die Hand aus. Und er hörte, wie einer sagte:
„Rabbi, wer hat Schuld auf sich geladen, sodass er blind geboren wurde – dieser Mann oder seine Eltern?“
(Johannesevangelium 9,2 - www.basisbibel.de)
Er hasste diese Frage, die er schon so oft gehört hatte: „Wer hat Schuld?“ Und dann fingen sie immer an zu mutmaßen: Über das, was wohl die Eltern getan hätten. Ob etwa die Mutter mit einem anderen Mann. Oder der Vater einmal Gott gegenüber. Oder ob womöglich ganz tief zurück ein dunkles Geheimnis. Auf irgendetwas einigten sie sich immer. Und dann waren sie zufrieden mit dem Ergebnis: Dass sein Leid die Folge eines Tuns sein musste. Auf die Schublade, rein das Leid, weg war es. Und sie konnten beruhigt weiter gehen. Das Leid hatte seine Ordnung und ging sie nichts an. Er allein musste sein Leid und die Schuld tragen.
Die Schuld. Wie oft hatte er auch seine Eltern darüber flüstern hören. Seine Mutter, die sich Vorwürfe machte. Sein Vater, der den Umständen Vorwürfe machte. Sie fühlten sich schuldig, dass sie ihn blind zur Welt gebracht hatten.
Aber sie fanden keinen Grund für ihre Schuld. Sie dachten, sie hätten etwas falsch gemacht. Aber sie fanden in all den Jahren keine Antwort auf die Frage, was es denn war, was sie falsch gemacht hatten.
Und auch er selber hatte nie eine Antwort gefunden. Er hatte immer nur die Frage: Warum bin ich blind? Manchmal wurde er zornig gegen sich selber, schnitt sich absichtlich mit dem Messer. Es merkte ja keiner, alle dachten, er sei eben blind und ungeschickt. Manchmal wurde er auch wütend gegen seine Geschwister. Wieso konnten sie sehen und er nicht? Wieso ausgerechnet er? Wer hat Schuld?

An diesem Tag hörte er eine neue Antwort. Sie kam mit der Stimme eines Mannes, von dem er noch nicht wusste, dass es Jesus war. Er hörte nur, wie er sprach. Überzeugt. Wie einer, der sich seiner selbst und seiner Sache sicher ist. Er sagte:
„Weder er selbst hat Schuld auf sich geladen noch seine Eltern. Er ist nur deshalb blind, damit das Handeln Gottes an ihm sichtbar wird“
(Johannesevangelium 9,3 - www.basisbibel.de)
Ja, bei Gott war er in seinen ständig kreisenden Fragen auch oft gelandet. Wie konnte Gott das zulassen? Wie konnte er zulassen, dass er blind war. Und ja nicht nur er. Er bettelte ja nicht allein in den Straßen von Jerusalem. An der nächsten Straßenecke saß einer, der nicht laufen konnte. Den trugen sie jeden Morgen an seinen Platz. Er selber war wenigstens frei, sich allein zu bewegen.
Wie konnte Gott das zulassen? Er weiß noch, wie seine Mutter ihm das erste Mal erzählte, wie Gott die Welt geschaffen hatte. Und als er den Menschen geschaffen hatte, da sah sich Gott alles an, was er gemacht hatte. Und er sagte: Siehe, alles ist sehr gut. „Mama“, hatte er damals gefragt, „Mama, ist Gott blind, dass er mich Blinden übersehen hat?“ Und seine Mutter hatte geweint.
Eine Welt, in der es Blinde gibt und Lahme und Arme – so eine Welt ist nicht sehr gut. Sie ist nicht einmal die beste aller möglichen Welten. Sollte Gott sie etwa so gewollt haben? Mit dem Leid? Mit den Blinden und Lahmen und Armen? Sollte Gott gewollt haben, dass er blind geboren wird? Einfach so, weil er es wollen konnte?
„Er ist nur deshalb blind, damit das Handeln Gottes an ihm sichtbar wird.“
Er hatte es genau so gehört, als er dort blind im Straßenstaub saß: Er war Spielball Gottes. Der wollte, dass er blind war – damit alle Welt sah, dass Gott auch das konnte: Blind machen. Das Augenlicht nehmen.

Erst als er sich am Wasserbecken die Augen wusch, erst als er sehen konnte, verstand er auch die Worte. „Damit das Handeln Gottes an ihm sichtbar wird.“
Das Handeln Gottes, das war nicht die Blindheit, das war nicht sein Leid. Das war, dass er das Sehen lernte. Nein: Dass er das Sehen geschenkt bekam. Wie ein neues Leben.
Denn so hatte er ja erlebt, was dann geschah, als der Mann, der Jesus hieß, sich ihm zuwandte. Er spürte, wie er ihm näher kam, der immer noch auf der Straße saß. Er hörte, wie Jesus wortlos Staub von der Straße aufnahm, wie er spuckte und rieb. Er spürte, wie Jesus seine Augen mit einem Lehmbrei bedeckte.
Er kannte das schon von den Heilern, zu denen seine Eltern ihn immer und immer wieder geschleppt hatten. Es war ein angenehmes, ein kühles Gefühl. Es tat gut – aber es half nie. Er war danach genauso blind wie davor.
Nur dieses Mal, an jenem Tag, da wusste er, dass etwas anders war. So wie er sich fühlte, musste sich Adam gefühlt haben, als Gott ihn in die Hand nahm, um ihn zu schaffen. Er spürte, wie etwas neu wurde. Neu in ihm. Neu an ihm.
Wie dieser Jesus mit diesem Lehm etwas hinzufügte, was ihm gefehlte hatte. Oder bildete er sich das im Nachhinein ein?
War da nicht etwas anderes stärker gewesen, als Jesus ihn losschickte zum Wasserbecken von Schiloach, damit er sich wusch? Zweifel waren es nicht. Die Routine eines Hoffnungslosen eher, vollkommene Erwartungslosigkeit. Weil er wusste, dass das zur Behandlung gehörte. Erst den Lehm auftragen, dann die Augen auswaschen. Und weil er aus den vielen Versuchen vorher wusste, dass das nichts half. Dass er blind bleiben würde, wie er war.
Wie Naaman einst in den Jordan ging, als der Prophet Elisa ihn dorthin schickte, damit er sich seinen Aussatz abwusch: Es würde nicht helfen, war der sich sicher. Aber von seinem Diener ließ der Soldatenhauptmann Naaman sich überzeugen: Tu's trotzdem, schaden kann's ja auch nicht. Und es schadete nicht nur nicht, es half. Naaman wurde geheilt.
Und er, der Blindgeborene, er fand das Licht. Er wusch sich die Augen im Wasserbecken, er öffnete die Augen – und er sah verschwommen seine Fingerspitzen, die er von den Augen nahm. Er sah das Glitzern der Sonne im Wasser, das ihn blendete. Er kniff die Augen zu. Er öffnete sie wieder und blinzelte in das Licht.

Das Licht. Wie das Licht in sein Leben kam. Das ist die Geschichte seines Lebens. Davon muss er erzählen.
Er muss erzählen, wie das Licht sein Leben veränderte. Natürlich. Das Leben war ein anderes. Er sah die Welt in allen Farben des Regenbogens. Der Regenbogen, das alte Zeichen, dass Gott sich mit seinen Menschen verbindet. Dass er seine Schöpfung, seine Menschen nicht allein lässt. Er hatte das erlebt. Er hatte erlebt, wie Gott da ist in seinem Leben. Wie er es ganz macht, heil. Davon muss er erzählen.
Und davon, wie er jetzt sein Leid in einem anderen Licht sieht. Jetzt, wo es von ihm genommen ist, jetzt weiß er: Gott will dieses Leid nicht. Er will nicht das Leid in der Welt und er will nicht, dass ein Mensch leidet. Das Leid, es ist das Chaos, das Tohuwabohu, das Gott zur Seite drängte, als er die Welt schuf. Doch manchmal bricht das Chaos wieder in die Welt Gottes ein. Einfach so bringt es Leid. Die Welt ist noch nicht die, die sie werden soll. Sie wartet noch darauf, dass sie ganz und heil wird, dass sie vom Chaos, vom Leid erlöst wird. Gott hat noch etwas mir ihr vor.
Und manchmal scheint das jetzt schon auf in einem Leben. Auch davon muss er erzählen. Er hat es erlebt. Er hat das Licht gesehen. Das Licht hat ihm die Augen geöffnet. Das hatte Jesus damals auch gesagt:
„Solange ich in dieser Welt bin, bin ich das Licht für diese Welt.“
(Johannesevangelium 9,5 - www.basisbibel.de).
Ihm ist er begegnet. Jesus hat sich ihm zugewandt. Er hat ihn heil gemacht und ganz.
Davon muss er erzählen. Damit die Menschen das hoffen können: Auch in ihrem Leben kann Licht aufscheinen, wo es dunkel ist. Damit die Menschen nach Lichtspuren in ihrem Leben suchen. Er ist sich sicher: Viele haben das schon erlebt, wie etwas, das zerbrochen war, heil wurde. Da hat Gott ihr Leben in sein Licht getaucht. Und was er einmal getan hat, das kann und wird er wieder tun.
Er ist sich sicher, denn er hat das erlebt. Er hat das Licht gesehen. Das ist die Geschichte seines Lebens. Die muss er erzählen. Immer wieder.

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