Als ich mit Jakob träumte

Erinnern Sie sich, wie das war, als Ihnen als Kind vor mehr oder minder langer Zeit Geschichten aus der Bibel erzählt wurden?
Ich habe da immer wieder ein Bild vor Augen: Wie ich in der Schule im Religionsunterricht sitze. Auf meinem Tisch liegt ein Blatt Papier mit den Umrissen einer Szene aus einer Geschichte. Vorne, am Lehrertisch, da sitzt die in meinem Empfinden uralte Pastorin und erzählt die Geschichte, die ich auf dem Blatt ausmale.
So lernte ich viele Geschichten kennen. Und während ich sie damals hörte und malte, wurden sie in mir lebendig. Ich tauchte in sie ein und lebte in ihnen. Sie waren für mich wahre Geschichten. Auch diese wunderbare Geschichte aus dem 28. Kapitel im ersten Buch Mose:

Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach:
"Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe."
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: "Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!" Und er fürchtete sich und sprach: "Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels."
Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus.
Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: "Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der HERR mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll ein Gotteshaus werden; und von allem, was du mir gibst, will ich dir den Zehnten geben."


Jakob schaut die Himmelsleiter. Die Geschichte war für mich als Kind ohne Frage eine wahre Geschichte.
Den Jakob, den gab es. Schließlich war ich bei ihm gewesen. Ich war bei ihm, als er sein Linsengericht kochte, mit dem er dem hungrigen und döschigen Esau sein Vorrecht auf das Erbe abkaufte. Und ich war auch bei ihm, als er mit viel List und der Hilfe seiner Mutter dem Bruder den väterlichen Segen abluchste. Und so war ich auch bei ihm, als er vor dem Zorn seines Bruders floh.
Hals über Kopf brach ich mit ihm auf, nur ein wenig Essen im Gepäck und einen Stock in der Hand. Ich lief mit ihm um sein Leben, bis der Abend kam. Als es dunkel wurde, legte ich mich mit ihm schlafen. Auf den nackten Boden, erschöpft und ängstlich, was in der dunklen Nacht lauern könnte. Eine unruhige Nacht erwartete ich – und was kam, war der Traum.
Ich sah mit Jakobs Traumaugen die unermesslich lange Leiter, die ganz in der Nähe im Dunkeln stand. Sie reichte weit, weit hinauf in den hellen, glänzenden Himmel.
Ich sah die Engel, wie sie die Leiter auf und ab stiegen. Sie begegneten sich unterwegs, hatten hier und dort zu tun. Ganz oben im Licht, da war Gott.
Ein Licht nur, aus dem eine Stimme kam. Laut und klar sprach sie zu Jakob und zu mir: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.“
Mit Jakob wachte ich am Morgen nach dem Traum auf. Und ich wusste mit ihm, dass alles gut werden würde. Er und ich vertrauten, dass auf dem Weg, der uns weit von zuhause wegführen würde, Gott auf uns aufpassen würde.
Also konnten er und ich losziehen, beruhigt und zuversichtlich. Und bevor ich mit ihm aufbrach, da baute ich mit ihm aus Steinen einen kleinen Altar. Er sollte alle daran erinnern, dass Gott uns an diesem Ort begegnet war.
So war das damals, als ich als Kind diese Geschichten um Jakob das erste Mal hörte. Ich tauchte in sie ein und lebte in ihnen. Es waren wahre Geschichten, es waren meine Geschichten.

Spätestens als ich mich dann auf den Weg machte, Pastor zu werden, tauchte ich aus diesen Geschichten auf. Gleich in den ersten Wochen an der Universität hörte ich Vorlesungen eines Professors zum ersten Buch Mose.
Was ich hörte, war: Die Geschichten sind Geschichten, die Menschen erzählt und aufgeschrieben haben. Und ich lernte von dem Professor, die Geschichten von außen zu befragen: Wer mochte sie erzählt haben? Und wozu mochte er sie aufgeschrieben haben?
Diese Fragen kann ich auch der Geschichte von Jakobs Traum von der Himmelsleiter stellen.
Und die Geschichte gibt Antworten. Sie antwortet, wenn man dann sie Wort für Wort untersucht und zusammenträgt, was man über die längst vergangenen Zeiten weiß.

Die erste Antwort: Ganz ursprünglich, vielleicht 900 v. Chr., da wurde die Geschichte erzählt, um zu erklären, warum der Ort Bethel ein heiliger Ort war.
Zu dieser Zeit stand in Bethel wohl eine Steinsäule. Sie war ein Heiligtum, zu dem Menschen kamen, um Gott anzubeten. Ihnen erzählte die Geschichte von der Himmelsleiter: Dieser Ort ist ein heiliger Ort. Denn hier ist einmal einem Mensch im Traum Gott begegnet.
Weil das so war, konnten sie hoffen, an diesem Ort auch Gott ganz nahe zu kommen. Wenn sie nach Bethel kamen, kamen sie zu Gott nach Hause. Denn Bethel, das heißt übersetzt „Haus Gottes“.

So wurde die Geschichte erzählt, über lange Zeiten. Und wie die Zeiten sich langsam änderten, veränderte sich auch die Geschichte.
Das ist die zweite Antwort. Aus der Geschichte wurde die Geschichte von Jakob, der auf der Flucht ist und im Traum Gott begegnet. Er legt sein Gelübde ab, dass er an diesem Ort ein Gotteshaus bauen wollte, sollte er mit Gottes Hilfe heil wieder zurückkehren.
So wurde die Geschichte vielleicht um 700 vor Christus erzählt. Sie wurde von Menschen erzählt, die Bethel kannten als einen Ort, an dem ein großes Gotteshaus stand. Sie wurde von Menschen erzählt, die selber oft nach Bethel gezogen waren, um dort ihre Gottesdienste zu feiern.
Aber beides war jetzt nicht mehr möglich. Bethel war von den Assyrern besetzt, das Gotteshaus zerstört. Und die Menschen waren geflohen, lebten in der Fremde.
Ihnen erzählte die Geschichte von der Hoffnung, die Jakob auf seiner Flucht hatte: Er würde mit Gottes Hilfe zurückkehren. So sollten auch sie hoffen: Wie Jakob würden sie eines Tages zurückkehren würden nach Bethel, um dort wieder Gott zu begegnen und zu feiern.

So wurde die Geschichte weitererzählt. Schließlich – das ist die dritte Antwort – wurde die Geschichte aufgeschrieben, so wie sie heute in unserer Bibel steht.
In sie wurden die Worte Gottes eingefügt: „Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden.“
Als diese Worte um 540 vor Christus aufgeschrieben wurden, herrschte Angst: Das ganze Land war besetzt, viele Menschen umgekommen oder verschleppt. Das kleine Israel drohte, im Großreich Babylon unterzugehen. Die Menschen fürchteten, ihre Heimat und ihre Wurzeln zu verlieren. Sie fürchteten um ihre Gemeinschaft und ihre Zukunft.
Auch ihnen wurde die Geschichte erzählt, um ihnen Hoffnung und Mut zu machen: Uns gilt Gottes Segen. Gott hat unseren Urvätern – Abraham und Isaak und Jakob – versprochen, dass sie und ihre Nachkommen Land zum Leben haben werden. Dieses Versprechen Gottes gilt, auch und gerade dann, wenn die Wirklichkeit anders aussieht. Gott ist bei uns und hält uns eine Zukunft bereit.

So wurde die Geschichte wohl damals, vor 2.500 und mehr Jahren erzählt und gehört: Als Geschichte, die von einem Ort erzählt, an dem Gott spürbar nah ist. Die Hoffnung macht, dass Gott zu einem Ort hinführt, der Zuhause und Heimat war und ist und bleiben wird. Die verspricht, dass Gott seine Menschen im dunklen Tal behütet und bewahrt und begleitet.
Und wie höre ich die Geschichte heute? Heute, da mehr als 2.500 Jahre vergangen sind und ich die Geschichte der Menschen von damals nicht mehr teile? Heute, da ich kein Kind mehr bin und nicht mehr einfach in eine Geschichte eintauchen kann?
Aber vielleicht ist es gerade das, was ich tun kann, damit mir diese und andere Geschichten aus der Bibel etwas erzählen.

Ich kann versuchen, in der Zeit zurückzureisen und zu verstehen, wozu die Geschichte einst erzählt wurde und was sie den Menschen damals bedeutet hat. Und dann kann ich in meinem Leben, in meiner Zeit schauen, ob ich das kenne.
Ob es in meinem Leben Augenblicke gab und gibt, in denen ich um meine Zukunft fürchte. In denen etwas in meinem Leben zerstört wurde. In denen ich mich nach der Nähe Gottes sehne.
Und dann erzählt mir die Geschichte: Der Segen Gottes gilt dir und deinem Leben. Auch dann, wenn es bedroht ist. Gott spricht seinen Segen über dir, selbst dort, wo nur die Vergangenheit schön scheint, die Gegenwart aber grau und die Zukunft dunkel.
Und: Es gibt die traumhaften Augenblicke, in denen du spüren kannst, dass Gott dir nah ist. Es gibt die besonderen Orte, an denen du Gottes Kraft für dein Leben schöpfen kannst.

Und das andere, das ich versuchen kann: Wieder auf die Geschichten zu hören, wie ein Kind sie hört. Mit bunter Phantasie, voller Vertrauen, mit all meinen Gedanken und Gefühlen.
Dann tauche ich wieder ein die Geschichte und sie wird in mir neu lebendig. Ich halte sie für wahr und ihre Wahrheit füllt mein Denken und Fühlen aus.
Jakobs Geschichte wird meine Geschichte. Wie er laufe ich weg vor den großen Brocken meiner Lebensgeschichte. Und kann die Fehler doch nicht ungeschehen machen. Wie er sorge ich mich um mein Leben. Und weiß doch nicht, was morgen sein wird.
Und dann lege ich mich hin. Und wie er träume ich vom Himmel, der sich über mir auftut. Und ich höre Gott, der seinen Segen über mir spricht.
Du läufst weg, sagt er, ich bringe dich wieder zurück. Du sorgst dich, sagt er, ich bin bei dir.
Dann wache ich auf und tauche aus der Geschichte wieder auf. Und ich trete mit neuem Mut den großen Brocken in meinem Leben entgegen. Ich gehe mit neuer Zuversicht dem neuen Tag entgegen. Weil ich Gottes Segen spüre.
Und vielleicht beginne ich dann selber, Geschichten zu erzählen, die Gottes Segen lebendig machen. Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

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