Begegnung in der Fußgängerzone

Eine kleine Szene aus einer deutschen Fußgängerzone. Eine Frau sitzt auf einer Decke, die Haare unter einem Kopftuch versteckt, den Blick ins nirgendwo gerichtet. Vor ihr steht eine leere Plastikschale. Menschen hasten an ihr vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Ein Mann kommt, der leichte Sommermantel weht. Er bleibt stehen, greift in die Hosentasche, geht auf die Frau zu. Er legt einen Schein zu den Münzen in der Schale. Leben kommt in die Frau. Blitzschnell nimmt sie den braunen Schein in die Hand. Sie stutzt einen Augenblick. Dann steckt sie den Schein in die Manteltasche. Sie steht auf, nimmt die paar Münzen aus der Plastikschale, legt die Decke zusammen und geht.
Die Szene hat sich vor einigen Jahren so abgespielt. Ich habe damals gestaunt über das, was ich mit ansah. Und ich war voller Fragen: Was macht die Frau wohl mit dem Geld? Braucht sie es für ihre Kinder? Oder für Alkohol? Wie kommt sie dazu, sich in die Fußgängerzone zu setzen? Ist es Verzweiflung? Oder die Aussicht auf leicht verdientes Geld?
Und wer ist der Mann? Was bewegt ihn, von seinem Geld zu geben? Hat er ein schlechtes Gewissen? Oder treibt ihn Mitleid mit der Frau? Was hat der Mann davon, dass er ihr Geld gibt?
Die Fragen sagen wenig über den Mann oder die Frau aus. Viel mehr künden sie von meinem Misstrauen, was Spenden und Almosen angeht.
Ich bin misstrauisch gegen die, die etwas von mir haben wollen. Das Misstrauen gilt den großen Organisationen, die von den Spenden leben, die sie einwerben. Und es gilt dem Penner, der an meiner Tür klingelt. Genauso bin ich misstrauisch gegenüber denen, die spenden. Die müssen doch einen Hintergedanken haben. Wer gibt, der will etwas.

Meinem Misstrauen gegenüber den Gebern gibt das Matthäusevangelium Nahrung. Es legt in der Bergpredigt Jesus in den Mund:

"Hütet euch: Stellt nicht vor den Menschen zur Schau, was für ein frommes Leben ihr führt. Sonst habt ihr keinen Lohn mehr zu erwarten von eurem Vater im Himmel.Wenn du also einem armen Menschen etwas gibst, häng es nicht an die große Glocke! So verhalten sich die Scheinheiligen in den Synagogen und auf den Straßen, damit die Leute sie bewundern. Amen, das sage ich euch: Sie haben damit ihren Lohn schon bekommen. Wenn du einem armen Menschen etwas gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte Hand tut. So bleibt deine Gabe im Verborgenen. Aber dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen."
(Matthäusevangelium 6,1-4 - www.basisbibel.de)

Jesus hebt den moralischen Zeigefinger und zeigt auf die Scheinheiligen. Die geben etwas – aber nicht um zu geben, sondern um zu bekommen. Aus dem Geben machen sie einen Handel: Ich gebe dir – gib du mir.
Sie geben Geld – und dafür erwarten sie, dass der, dem sie geben, ihnen zeigt, wie dankbar er ist. Und von denen, die zuschauen, erwarten sie anerkennende Blicke und ein Lob dafür, wie unfassbar großzügig sie sind.
Das war zumindest zur Zeit Jesu so, als es für einen frommen Juden Pflicht war, Almosen zu geben. Wer diese Pflicht vor aller Augen gut erfüllte, der stand gut da.
Die Zeiten haben sich längst geändert. Keiner muss mehr Almosen geben. Inzwischen gibt es den Sozialstaat, der hilft. Aus der Pflicht ist eine Tugend geworden. Aber auch für die gilt: Tue Gutes und rede darüber.
Bei der Spendengala im Fernsehen wird das Band mit den Kleinspenden eingeblendet. Die Großspender werden von den prominenten Moderatoren befragt – und ein Raunen geht durchs Publikum angesichts der großzügigen Spende. Diejenigen, die etwas bekommen, zeigen sich den Fernsehkameras und den Zuschauern daheim dankbar. Mit Tränen der Rührung stammeln sie ein Dankeschön in die Kamera. Und alle schalten ein und sorgen für ein wunderbare Einschaltquote.

Wer gibt, der bekommt auch etwas. Aber was soll schon dabei Anstößiges sein. Es ist doch eine Win-win-Situation. Alle sind Gewinner. Der Geber gewinnt Lob und Dank und Anerkennung. Der Empfänger gewinnt die Spende.
Da klingen die Worte von Jesus doch blauäugig und weltfremd: „Wenn du einem armen Menschen etwas gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte Hand tut. So bleibt deine Gabe im Verborgenen.“

Gut und schön. Aber wo bleibt da der Gewinn. Was habe ich dann davon, wenn ich etwas gebe? Jesus antwortet: „Dein Vater – Gott im Himmel –, der auch das Verborgene sieht, wird dich belohnen.“
Ob das damals überzeugt hat? Ich tue anderen etwas Gutes, damit Gott mir Gutes tut? Immerhin: Jesu Antwort spiegelt sich immer noch in der Umgangssprache. „Vergelt's Gott“, heißt es in Süddeutschland, wenn einer mehr als nur „Danke“ sagen will. Für das, was du mir gibst, kann ich dir nichts geben. Aber Gott wird dich belohnen.
Davon erzählt auch die Sage vom Vergelt’s-Gott-Sammler. Derzufolge ließ sich ein böser und geiziger Bauer überreden, einen Fußweg durch seinen Hof allgemein benützen zu lassen. Allerdings stellte er die Bedingung, dass jeder Vorübergehende vor seinem Hofkreuz ein „Vergelt’s Gott“ sagen müsste. Bei jedem „Vergelt’s Gott“ machte er eine Kerbe in das Kreuz. Nach seinem Tod wollte Petrus dem bösen Bauern den Einlass zum Himmel verweigern, doch die gesammelten „Vergelt’s Gott“ fielen schwerer ins Gewicht als seine Sünden. Petrus musste ihn in den Himmel lassen.
Die Sage ist zum Schmunzeln. Wer würde heute noch Vergelt's Gott sammeln – in der Hoffnung, dass sie ihm bei der Begegnung mit Petrus helfen?
Es ist etwas anderes, dass mich an der Sage stört. Und auch an dem Satz Jesu: „Gott im Himmel wird dich belohnen.“ Als könnte ich tatsächlich Vergelt's Gott wie gute Taten sammeln – als wären sie Treuepunkte auf einer Kundenkarte, gegen die ich am Ende eine halbe Ewigkeit bei Gott einlösen könnte.
Mich stört daran der Gedanke, gegenüber Gott Ansprüche zu erwerben. Wer bin ich, dass ich das könnte? Nein, ein Treuepunktesystem gibt es bei Gott nicht.
Mich stört daran auch, dass die Grundhaltung die gleiche bleibt: Ich gebe, damit ich bekomme.
Ich bin dann immer noch ein Scheinheiliger. Zwar keiner, der gibt, um von Menschen bewundert und gelobhudelt zu werden. Aber einer, der gibt, um von Gott ein beifälliges Klatschen zu hören.

Viel lieber würde ich die Grundhaltung um 180 Grad drehen. Nicht: Ich gebe, damit ich bekomme. Sondern: Ich bekomme, damit ich gebe.
Der Mann in der Fußgängerzone – er war gerade auf der Bank, hat sich Kontoauszüge und frisches Geld geholt. Die Zahlen waren – wie immer – sehr erfreulich. Den Geldschein hat er nur schnell in die Hosentasche gestopft. Er will ihn gleich wieder ausgeben: ein Blumenstrauß zum Hochzeitstag. Im Vorbeigehen bleibt sein Blick hängen an der Frau, die auf ihrer Decke vor dem Kaufhaus sitzt. Er sieht an ihren Augen, wie traurig sie ist, wie müde. Er spürt den Schein in seiner Hosentasche. Geld macht nicht glücklich. Aber es beruhigt. Er zieht den Schein aus der Tasche und legt ihn in die Plastikschachtel der Frau. Die Frau ist zu überrascht, um sich zu bedanken. Aber sie weiß, was sie mit dem Schein machen wird: Die Schuhe kaufen, die ihre Tochter unbedingt braucht.
Das wäre die freundliche Lesart der Begegnung. Die, die an das Gute im Menschen glaubt: Der Mann in der Fußgängerzone ist einer, der gibt, weil er mehr als genug hat. Er gibt, weil er dankbar ist für das, was er in seinem Leben bekommen hat. Von dem er weiß: Er hat sich das nicht alles selber verdient. Was er einnimmt und ausgeben kann, das versteht er immer auch als Geschenk. Und wer weiß: Vielleicht ist diese vertrauensvolle Sicht viel dichter an der Wirklichkeit als jede misstrauische Unterstellung.
Ich bekomme, damit ich gebe: Das ist die Grundhaltung der geöffneten Hände. Jeden Tag neu wache ich mit leeren Händen auf. Ich halte sie Gott hin und warte, dass er mir mein Leben hineinlegt.
Was ich jeden Morgen neu in meinen Händen empfange, ist ein Geschenk Gottes. Ich habe nichts getan, um dieses Geschenk zu bekommen. Gar nichts. Außer am Morgen aufzuwachen und Gott die geöffneten Hände hinzuhalten.
Gott füllt sie mir, jeden Morgen neu. Weil das so ist, weil ich das so empfinde, halte ich weiter die geöffneten Hände hin. Und wenn ich sie offen hinhalte, kann ich nicht festhalten, was Gott in sie legt. Was mehr ist, als in die Schale der Hände passt, gebe ich weiter.
Wie bei einer Pyramide aus Gläsern: Das oberste Glas wird gefüllt, bis es voll ist. Es beginnt überzulaufen – in die vier Gläser unter ihm. Immer weiter wird in das oberste Glas gegossen, das immer weiter überläuft – bis nach und nach alle Gläser gefüllt sind.
Wenn ich um meine leeren Hände weiß, die Gott mir füllt, dann habe ich auch eher Augen für die leeren Hände anderer. Wenn ich weiß, dass ich kein Anrecht habe auf das, was ich habe – dann wende ich mich eher denen zu, die nichts haben. Um sie an dem Reichtum teilhaben zu lassen, den Gott mir in die Hände legt.
Vielleicht ist es das, was den Mann in der Fußgängerzone barmherzig machte: Er wusste sich beschenkt und schenkte davon weiter.
Ob es eine Fortsetzung dieser Geschichte gibt? Der Mann kommt ins Büro und erzählt den Kollegen von seiner barmherzigen Heldentat, um Anerkennung zu ernten? Er kehrt zurück vors Kaufhaus, um von der Frau Dank und Rechenschaft über seine Spende einzufordern? Er klopft bei Petrus an und zieht unter Posaunenklang in den Himmel ein?
Nein. Keine Fortsetzung. Der Mann verschwindet unerkannt in der Menge. Von ihm bleibt nur, was er weiter gegeben hat. Und das ist mehr als genug.

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