Mit einem Glänzen auf dem Gesicht

Sie stand vor dem Spiegel und betrachtete ihren Körper. Sie griff nach dem Fläschchen mit dem Öl. Sie fuhr mit dem Balsam über die Haut. Geschmeidig sollte sie sein und gut riechen. Sie zog sich ihr Kleid über. Sein leichter Stoff zeigte den Körper, den er verhüllte. So wie die Männer es mochten, die zu ihr kamen.
Sie öffnete den Holzladen zur Straße. Die Geräusche des Vormittags kamen herein. Auf dem Dach gegenüber unterhielten sich die Nachbarinnen, während sie ihre Wäsche aufhingen. Sie hob die Hand, um ihnen zuzuwinken. Die beiden Frauen drehten sich weg. So wie immer, wenn sie sich sahen.
Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich auf den Stuhl am Fenster. Sie schaute auf die Männer, die vorüberkamen. Der da hinten, der war schon einmal bei ihr. Aber heute würde er sie übersehen, seine Frau war bei ihm. Die beiden Jugendlichen an der Straßenecke schauten zu ihr hin und steckten aufgeregt die Köpfe zusammen. Aber ihnen fehlte der Mut und bestimmt auch das Geld. Den, der dort kam, den schaute sie besser nicht an. Der würde es ihr nie verzeihen, wenn sie ihm in die Augen blickte.
Jetzt kam ein ganzer Pulk von Menschen vorbei. Die Männer sah sie zuerst. Einfache Leute waren sie, Fischer oder Handwerker. Auch ein paar der Pharisäer aus der Stadt waren dabei. Dann entdeckte sie die Frauen. Einige mussten vom Dorf sein, in der Stadt hatte sie sie noch nie gesehen.

Aus der Menge löste sich ein Mann und trat zwei Schritte zu ihrem Fenster hin. Er schaute sie an. Sie hielt seinen Blick aus. Schon oft hatten Männer sie angeschaut. Es gab keinen Blick, den sie nicht kannte. Den gierigen und den ängstlichen. Den verächtlichen und den anzüglichen. Sie wusste, wie sie mit ihrem Blick antworten musste.
Jetzt schaute sie dieser Mann an. Und sie wusste nicht, wie sie zurückschauen sollte. Seinen Blick kannte sie nicht. So hatte sie noch nie ein Mann angeschaut. Ein ruhiger Blick, der tief in ihr Inneres schaute.
Ihr Blick verschwamm. Tränen, die aufstiegen. Der Mann da sah ihr Herz an. Wo sie doch vergessen wollte, dass eines in ihr schlug. Und was sah er da? All den Schmutz, der sich dort abgelagerte hatte.
Wie sehr es weh tat, wenn die Nachbarinnen sich wegdrehten. Wie leer sie sich fühlte, wenn die Männer wieder gingen. Wie sie an manchen Tagen ihren Fensterladen nicht aufmachen mochte. Wie sehr sie sich sehnte, dass ihr Leben ein anderes werden würde.
Sie spürte, dass er das alles sah. Und sie wollte sich schämen, für das, was er sah. Aber der Blick nahm ihr die Scham. Der Blick urteilte nicht, er verurteilte nicht. Der Blick verstand. Er sah, wie es um sie stand, um ihr Herz.
Da schien es ihr, als würde unter diesem Blick der Schmutz von ihrem Herzen abbröckeln. Wie eine Kruste fiel er von ihr ab. Sie spürte ihr Herz befreit schlagen. Befreit von dem, was sie einsam machte.
Jetzt erkannte sie seinen Blick, der ihr so fremd vorkam. Ihre Mutter hatte sie so angeschaut, vor langer Zeit. Immer dann, wenn sie sagte: „Ich habe dich lieb, mein Kind.“ Und sie fand den Blick wieder, mit dem sie ihrer Mutter geantwortet hatte: „Ich dich auch, Mama."
Der Mann vor ihrem Fenster lächelte. Dann wandte er sich um und trat zurück in die Menge. Die Frau hörte noch, wie einer der Pharisäer zu ihm sagte: „Du musst heute mein Gast sein. Du und deine Leute, kommt mit in mein Haus.“
Sie wusste plötzlich, was sie tun musste. Sie stand auf, schloss den Fensterladen, nahm das Fläschchen mit dem Salböl und folgte der Menge.
Simon, der Pharisäer, schaute sich um. Alle Polster hatte er in den großen Saal bringen lassen, damit alle zum Essen Platz fanden. Im ganzen Raum verteilt, lagen die Männer nach römischer Sitte auf den Kissen. Ein paar von den Pharisäer-Freunden waren da, einige von den Fischern vom See. Vor allem aber war er da: Jesus, der Wanderprediger, von dem sie sagten, er sei ein großer Prophet.
Viel zu viele liefen in letzter Zeit von diesen Predigern durch die Gegend. Sie alle meinten, Gottes letzten Willen zu kennen und damit beauftragt zu sein, ihn weiterzusagen. Er hielt die meisten für Spinner. Man musste auf sie nichts geben. Früher oder später würden sie sich lächerlich machen.
Aber dieser Jesus war anders. Er erzählte nicht wie die anderen wilde Träume. Wie ein echter Lehrer sprach er tiefe Wahrheiten aus: „Wie kannst du zu deinem Gegenüber sagen: 'Du, komm her! Ich zieh dir den Splitter aus dem Auge!' Siehst du nicht den Balken in deinem eigenen Auge?“
Eine Kraft ging von ihm aus, ein besonderer Geist. Das war auch jetzt zu spüren, wo er bei ihm zum Essen zu Besuch war.

Da sah Simon aus dem Augenwinkel eine Frau hereinkommen. Diese unsagbare Frau, vor deren Haus sie eben einen Augenblick stehen geblieben waren. Sie hielt ein Fläschchen in der Hand.
Die Frau trat von hinten an das Fußende des Polsters heran, auf dem Jesus lag. Sie weinte so sehr, dass seine Füße von ihren Tränen nass wurden. Mit ihren Haaren trocknete sie die Tränen ab. Dann küsste sie seine Füße und salbte sie mit dem Öl.
(Lukasevangelium 7,38 - www.basisbibel.de)
Simon merkte, wie schlagartig alle Gespräche verstummten. Er sah, wie manche aufsprangen, um genau zu sehen, was nun geschah.

Auch er beobachtete das alles und sagte sich: „Wenn Jesus ein Prophet ist, muss er doch wissen, was für eine Frau ihn da berührt – dass sie ein Leben voller Schuld führt.“
(Lukasevangelium 7,39 - www.basisbibel.de).
Aber Jesus rührte sich nicht. Er, Simon, spürte den Drang, einzuschreiten. Er musste die Frau hinauswerfen. Wie konnte sie es wagen, hierher zu kommen. Sie beschmutzte Jesus mit ihren Haaren. Sie besudelte ihn mit diesem widerlichen Salböl. Mit ihrem Weinen entweihte sie das ganze Essen. Wieso ließ Jesus sich das alles gefallen?
Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“ Er antwortete: „Lehrer, sprich!“ Jesus sagte: „Zwei Männer hatten Schulden bei einem Geldverleiher: Der eine schuldete ihm fünfhundert Silberstücke, der andere fünfzig. Da sie es nicht zurückzahlen konnten, schenkte er beiden das Geld. Welcher von ihnen wird dem Geldverleiher wohl dankbarer sein?“
(Lukasevangelium 7,40-42 - www.basisbibel.de)
Simon schaute Jesus fragend an. Was wollte der jetzt? Da kam ihm diese Frau viel zu nah – und er fing eine Art Lehrgespräch mit ihm an. Störte ihn die Frau etwa nicht? Oder wollte er einfach ihn, den Gastgeber, nicht bloßstellen und versuchte deshalb, den Zwischenfall zu übergehen? In der Hoffnung, dass die Frau von ihm abließ? Aber die lag da immer noch und hörte nicht auf, seine Füße zu küssen.
Simon antwortete: „Ich nehme an, der, dem der Geldverleiher mehr geschenkt hat.“ Da sagte Jesus zu ihm: „Du hast recht.“ Dann drehte er sich zu der Frau um und sagte zu Simon: „Siehst du diese Frau? Ich kam in dein Haus, und du hast mir kein Wasser für die Füße gebracht. Aber sie hat meine Füße mit ihren Tränen nass gemacht und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss zur Begrüßung gegeben. Aber sie hat nicht aufgehört, mir die Füße zu küssen, seit ich hier bin. Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt. Aber sie hat meine Füße mit kostbarem Öl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre große Schuld ist ihr vergeben. Deshalb hat sie so viel Liebe gezeigt. Wem aber wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.“
(Lukasevangelium 7,44-47 - www.basisbibel.de)
Simon schaute erschrocken. Hatte er etwas versäumt? Hätte er Jesus die Füße waschen sollen? Ihm mit einem Bruderkuss begrüßen? Hatte Jesus erwartet, dass er ihn wie einen Ehrengast empfing? Es sollte doch kein Festmahl sein, sondern nur eine kleine Einladung. Um sich ein wenig kennen zu lernen. Ganz ungezwungen. Nein, er hatte alles richtig gemacht. Oder?

Die Frau hatte aufgehört, Jesus die Füße zu küssen. Langsam richtete sie sich auf. Sie sah Jesus an. Sie hatte seine Worte verstanden. Er hatte von ihr gesprochen. Ja, sie hatte Schulden. Mehr noch als die fünfhundert Silberstücke. Nie und nimmer hätte sie diese Schulden abtragen können.
Sie hatte es versucht. Immer wieder versucht. Aber sie blieb in ihrer Schuld gefangen. Die Nachbarinnen, die sie geflissentlich übersahen, ließen sie nicht heraus. Die Männer, die immer wieder zu ihr kamen, schlossen sie darin ein. Und auch sie selber konnte sich nicht befreien. Zu tief steckte sie in ihrer Schuld. Bis sie diesem Mann, bis sie Jesus in die Augen sah.
Auch jetzt suchte die Frau nach dem Blick von Jesus. Als sie ihn fand, war es wieder so, als würde er sie mitten in ihr Herz treffen. Als würde all das von ihr abfallen, was ihr Herz verkrustete, beschwerte, beschmutzte. Als würde es endlich, endlich frei und voller Kraft schlagen können.
Und Jesus sagte zu der Frau: „Deine Schuld ist dir vergeben.“ Die anderen Gäste stellten sich die Frage: „Wer ist das eigentlich? Er vergibt sogar Menschen ihre Schuld!“ Aber Jesus sagte zu der Frau: „Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden.“
(Lukasevangelium 7,48-50 - www.basisbibel.de)

Ich war dabei. Ich hörte, wie Jesus das sagte: „Deine Schuld ist dir vergeben.“ Und mich bewegte die Frage der anderen Gäste: „Wer ist das eigentlich?“
Vor allem aber sah ich, wie die Frau aufstand und ging. In Frieden ging. Ich sah den Frieden, den sie gefunden hatte. Er glänzte auf ihrem Gesicht. Ich nahm dieses Glänzen auf ihrem Gesicht mit. Es begleitet mich bis heute.
Ein wenig ist es mir immer noch fremd. So fremd, wie es Simon damals gewesen ist. Was mag das für ein Gefühl sein, wenn mir plötzlich alle Schuld erlassen wird? Wenn einer alles niederreißt, was mich von ihm und mir selber trennt? Wenn der, mit dem ich nicht rechne, wenn Gott mir nahe kommt?
Oft genug sehne ich mich nach diesem Glanz. Ich sitze am Fenster und schaue hinaus in mein Leben. Ich sehe, was nicht so ist, wie es sein sollte. Ich habe mich selber gefangen. Ich komme nicht los von dem Menschen, der ich bin. Und andere lassen es nicht zu, dass ich ein anderer werde. So warte ich auf den einen, der mich anschaut. So anschaut, dass ich weiß: Ich kann ihm und mir ins Gesicht schauen.
Und plötzlich dann erfüllt sich diese Sehnsucht und der Glanz scheint in meinem Leben auf. Weil mich einer liebevoll anschaut. Einer, der mein Herz ansieht und es stark macht und frei. So stark, dass das, was mich hält, abfällt. So frei, dass ich ein anderer werden und neu anfangen kann.
Wenn mich einer so anschaut, dann weiß ich: Meine Schuld ist mir vergeben. Gott schaut mich freundlich an. Denn wer sonst sollte mich so ansehen können? Und ich gehe in Frieden. Mit einem Glänzen auf dem Gesicht. Und das Herz voller Dank.

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