Ein Wunder, das die Augen öffnet

„Begreift ihr denn gar nichts? Sind eure Herzen so fest verschlossen? Ihr habt doch Augen – seht ihr denn nichts? Ihr habt doch Ohren – hört ihr denn nichts?“
(Markusevangelium 8,17b-18a - www.basisbibel.de)
Jesus war verärgert. Er ärgerte sich über seine Jünger. Er saß mit ihnen in einem Boot auf dem See Genezareth. Sie hatten nichts zu essen mit. Nur ein einziges Brot für alle. Die Jünger hatten vergessen, Brot zu besorgen.
Grund genug, sich zu ärgern. Was die Jünger ausgiebig taten. Sie ärgerten sich, dass sie das Brot vergessen hatten, und überhäuften sich mit Vorwürfen. Sie dachten nichts anderes mehr – als das Brot, das ihnen fehlte.
Das wiederum ärgerte Jesus. Nicht, dass sie das Brot vergessen hatten. Sondern dass sie nicht vergessen konnten, dass sie es vergessen hatten.
Er fragte die Jünger: „Erinnert ihr euch noch daran, wie ich fünf Brote unter fünftausend Menschen ausgeteilt habe? Und als ich sieben Brote unter viertausend ausgeteilt habe?“
Die Jünger nickten. Natürlich erinnerten sie sich. Und Jesus fragte: „Begreift ihr denn immer noch nichts?“ Die Jünger schauten ihn fragend an. Jesus schüttelte entnervt den Kopf.
Da bekamen sie die Wunder frei Haus geliefert. Sie saßen in der ersten Reihe, als er das Brot brach. Sie waren mittendrin, als sie die wenigen Brote an die vielen Menschen verteilten. Und nun saßen sie im Boot und stritten sich, weil einer vergessen hatte, Brot zu besorgen.
„Begreift ihr denn gar nichts? Sind eure Herzen so fest verschlossen? Ihr habt doch Augen – seht ihr denn nichts? Ihr habt doch Ohren – hört ihr denn nichts?“

Es scheint, als bräuchten die Jünger noch ein Wunder. Eines, das sie für Jesus aufschließt. Das ihnen Herzen und Augen und Ohren öffnet, damit sie ihn verstanden.

So ein Wunder, wie es der Taubstumme erlebte, den sie in Sidon zu Jesus brachten. „Öffne dich!“, sagte Jesus. Und sofort öffneten sich seine Ohren und seine Zunge löste sich.
Oder so ein Wunder, wie es der Blinde erlebte, den sie in Betsaida zu Jesus brachten:

"Jesus und seine Jünger kamen nach Betsaida. Dort brachten die Leute einen Blinden zu ihm. Sie baten Jesus: "Berühre ihn!"
Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn aus dem Dorf heraus. Dann spuckte Jesus ihm auf die Augen, legte seine Hände darauf und fragte ihn: "Was siehst du?"
Er blickte auf und antwortete: "Ich sehe Menschen. Sie sehen aus wie Bäume, die herumgehen."
Noch einmal legte Jesus ihm die Hände auf seine Augen. Da konnte er klar sehen. Er war geheilt und konnte alles deutlich erkennen.
Jesus schickte ihn nach Hause und sagte: "Geh aber nicht in das Dorf hinein."

(Markusevangelium 8,22-26 - www.basisbibel.de)

Diese Wundergeschichte erzählt natürlich von dem Blinden.
Ich stelle ihn mir als einen Mann vor, der einmal sehen konnte. Der gut zurecht kam in seinem Leben. Er hatte seinen Beruf. Er war anerkannt bei den Nachbarn. Sicher hatte er Familie. Eltern und Geschwister, vielleicht auch Frau und Kinder.
Er stand mitten im Leben – da wurde er blind. Schleichend verschwammen die Bilder vor seinen Augen. Er musste seine Arbeit aufgeben. Er kam nicht mehr allein zurecht.
Womöglich erging es ihm noch gut. Weil die Familie sich um ihn kümmerte. Weil die Nachbarn halfen. Auch wenn er nicht mehr sehen konnte, sie sahen ihn weiter freundlich an.
Sie wollten, dass er wieder sehen konnte. Also brachten sie ihn zu Jesus. Der legt ihm einmal die Hände auf die Augen – und das Licht kehrt zurück. Der Mann ahnt wieder, was um ihn herum geschieht. Jesus legt noch einmal die Hände auf die Augen – der Mann erkennt wieder klar.
Der Mann erlebt sein Wunder. Er kann die Menschen wieder sehen, die er liebt. Er kann in seinen Beruf zurück. Er nimmt seinen Alltag wieder auf, den er in einem ganz neuen Licht sieht – als ein Geschenk Gottes.

Nicht nur deshalb erzählt die Wundergeschichte natürlich auch von Jesus. Sie sagt: Jesus ist der Messias. Er ist der, den Gott schickt.
Wenn Gott die Welt heil macht, „dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch und die Zunge der Stummen wird frohlocken.“ So hieß es bei Jesaja (35,5f.).
Jetzt ist es so weit, sagt das Markusevangelium. Jesus macht die Menschen heil. Er hilft Blinden sehen und Tauben hören. Er macht ganz, was zerbrochen ist. Er bringt Gottes Heil.
Der Taubstumme und der Blinde erfahren das am eigenen Leib, so dass alle es erfahren können. Aber am liebsten wäre es Jesus, wenn keiner etwas davon erführe. Den Taubstummen führt er von der Menge weg, bevor er ihn heilt. Den Blinden bringt er aus seinem Dorf hinaus. Danach schärft er dem Hörend-Sprechenden ein, nichts davon zu erzählen. Den Sehenden bittet er, nicht zurück ins Dorf zu gehen.
Als sollte das Wunder ein Geheimnis zwischen ihm und dem Geheilten bleiben. Natürlich gelingt Jesus das nicht. Natürlich erzählen die beiden Geheilten und die, die zu ihnen gehören, von dem, was sie sehen und hören und erleben.
Ich verstehe Jesus so: Er will nicht, dass die Wunder, die er tut, den Blick verstellen. Die Wunder blenden so, dass die Menschen nicht mehr erkennen, wer der ist, der sie tut. Dabei kommt es Jesus doch darauf an: Dass sie durch die Wunder, die er tut, ihn erkennen – den Sohn Gottes an ihrer Seite.

Deshalb erzählt mir die Wundergeschichte von dem Blinden, den Jesus heilt, auch von den Jüngern. Ich höre sie als Antwort auf die Frage, die Jesus seinen Jüngern stellt: „Begreift ihr denn immer noch nichts?“ Die Antwort lautet: Ja, die Jünger begreifen nichts. Sie sind blind. Blind für Jesus, blind für Gott an ihrer Seite.
Da sitzen sie mit Jesus in einem Boot. Sie haben erlebt, wie 5.000 Menschen satt wurden, weil er fünf Brote brach. Sie haben erlebt, wie 4.000 Menschen satt wurden, weil er sieben Brote brach. Und sie starren auf das eine Brot, das sie haben, und ärgern sich, dass sie vergessen haben, Brot zu besorgen.
Ganz so, als wäre Jesus nicht da. Als hätte es diese Wunder nicht gegeben. Nur der Hunger, der in ihrem Magen grummelt, zählt. Und der Ärger, in dem sie sich Vorwürfe machen.
Die Jünger sind blind. Sie sind blind für Jesus, blind für Gott an ihrer Seite. Also muss Jesus ihnen die Hand auflegen. Damit sie etwas sehen. Damit sie ihn sehen.
Und tatsächlich: Sie sehen Menschen. Sie sehen aus wie Bäume, die herumgehen.
Sie erinnern sich, dass sie das wirklich so erlebt haben: Dass fünf Brote für 5.000 Menschen reichten und sieben Brote für 4.000 Menschen. Sie erinnern sich, dass Jesus das tun konnte: So viele Menschen mit so wenigem satt machen.
Aber was sollte das mit ihnen zu tun haben? Mit dem Brot, das sie vergessen hatten zu besorgen? Mit dem Hunger, den sie jetzt verspürten? Mit dem einen Brot, das sie bestimmt nicht satt machen würde?
Also legt er ihnen noch einmal die Hand auf – und sie können klar erkennen. Sie sehen Jesus, der bei ihnen ist. Sie sehen den, der 5.000 und 4.000 Menschen satt gemacht hat – und der natürlich auch sie satt machen wird.
Sie begreifen: Er ist auch ihr Jesus. Er ist für sie da. Gott schickt ihn, um die Welt heil zu machen. Er schickt ihn, um sie heil zu machen.
Als das Boot an Land liegt und der Blinde geheilt ist und sie weiterziehen, fragt Jesus seine Jünger: „Für wen haltet ihr mich?“ Petrus antwortet ihm: „Du bist der Christus!“ Du bist der, den Gott uns schickt.
Die blinden Jünger sind geheilt. Sie erkennen Jesus, sie sehen Gott an ihrer Seite. Und Jesus schärft ihnen ein, mit niemandem darüber zu reden.

Wenn ich die Wundergeschichte so höre – dann wird sie auch zu meiner Geschichte.
Sie beginnt damit, dass ich nichts sehe. Nichts – außer dem, von dem ich meine, dass es zum Leben nicht reicht. Was ich habe, reicht nicht, um gut zu sein oder glücklich zu werden. Es reicht nicht, ein ganzer Mensch zu sein oder zu werden. Ich sehe nichts – außer dem, von dem ich meine, dass es mir fehlt. Weil ich mich nicht darum gekümmert habe. Weil ich es nicht besser kann. Weil irgendein Schicksal es mir vorenthält.
Ich sehe nichts – bis mich einer an der Hand nimmt und mir ein anderer die Hand auf die Augen legt. Und dann beginne ich zu sehen: Menschen, die wie Bäume umhergehen.
Ich höre die Geschichten von Jesus. Dass er die Menschen satt macht. Dass er ihnen gibt, was sie zum Leben brauchen. Dass er aus dem Wenigen, was sie haben, viel macht. Dass er das, was in ihrem Leben kaputt ging, heil macht.
Aber was sollten diese alten Geschichten mit mir zu tun haben? Was sollten diese 5.000 Menschen mit mir zu tun haben und was ich mit diesen 4.000 Menschen? Mein Leben ist ein anderes, meine Sorgen sind andere.
Und dann legt sich noch einmal eine Hand auf meine Augen – und ich kann klar erkennen. Ich sitze mit im Boot auf dem See Genezareth und sehe das eine Brot und höre die Frage: „Begreift ihr denn immer noch nichts?“
Und ich beginne zu begreifen: Ich kann vertrauen. Dieser Jesus ist der Christus. Er ist der, in dem ich Gott sehen kann. Er ist der, den Gott schickt. Mir schickt.
Das Wenige, was ich habe, reicht, weil er es segnet. Er sieht mich an – deshalb bin ich trotz aller Brüche in meinem Leben ein ganzer Mensch. Meine Wege sind nicht durch Schicksal vorgezeichnet – er geht sie mit mir und begleitet mich über die Kreuzungen. Er öffnet mir die Augen – dass ich ihn sehe und begreife: Gott ist mit mir.

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