"Ich befehle dir: Steh auf!"

„Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein.“ Ich finde das eine wunderbare Verszeile aus dem Lied "Jesu meine Freude" (Evangelisches Gesangbuch Nr. 396) – mit einer kraftvollen Melodie dazu. Diese sechste Strophe ist wie gemacht dafür, sie mit ganzer Kraft zu singen und von ganzem Gemüt. So laut, dass die Trauergeister sich tatsächlich erschrecken und abziehen. Und so innig, dass ich es wahrhaft glaube: Jesus kommt und alles wird anders.
Das Lied wird so zu einem Protestsong. Ich singe es und stemme mich mit aller Macht gegen das, was das Leben niederhalten will. Ich singe es gegen all das, was mir Schmerzen bereitet und Leid bringt. Ich singe es vor allem und immer wieder gegen den Tod.
Denn er ist es ja, der letztlich hinter dem Leid steht und den Schmerzen. Der Tod schickt immer wieder seine Boten in mein Leben. Ob er nun an meiner Gesundheit knappst oder ich mir Sorgen um einen lieben Menschen machen muss. Ob ich den Tod und seine Schrecken in den Nachrichten sehe oder selber um einen Menschen trauern muss. Der Tod legt seine Spuren in diese Welt und auch in mein Leben. Und am Ende hat er mich.
Hat er mich am Ende? Auch dagegen stehe ich auf, wenn ich in gar sichrer Ruh singe. „Trotz dem alten Drachen, Trotz dem Todesrachen, Trotz der Furcht dazu!“
Das Lied ist auch ein Protestsong gegen den Tod. Wenn wir es singen – und nicht nur dann – sind wir Protestleute gegen den Tod. Christoph Blumhardt, ein Theologe des 19. Jahrhunderts hat das einmal gesagt. „Wir sind Protestleute gegen den Tod.“
Dieser wunderbare Satz steht im Mecklenburgischen Gesangbuch zwischen den Osterliedern. Und da gehört er auch hin: Zur Osterbotschaft. In ihrem Namen protestieren wir gegen den Tod. Aber wie erfolgreich sind wir mit unserem Protest?

Dann, bald darauf, zog Jesus weiter zu der Stadt Naïn. Seine Jünger und eine große Volksmenge zogen mit ihm.Als Jesus sich dem Stadttor näherte, sieh doch: Da wurde ein Toter herausgetragen. Er war der einzige Sohn seiner Mutter und sie war eine Witwe. Viele Leute aus der Stadt begleiteten sie.
Als der Herr die Witwe sah, bekam er Mitleid mit ihr und sagte: "Weine nicht!"
Dann trat er näher heran und berührte die Bahre. Die Träger blieben stehen.
Jesus sagte: "Junger Mann, ich befehle dir: Steh auf!"
Da richtete der Tote sich auf und fing an zu reden.
Und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.
Alle wurden von Furcht gepackt. Sie lobten Gott und riefen: "Ein großer Prophet tritt unter uns auf. Gott ist seinem Volk zu Hilfe gekommen."

(Lukasevangelium 7,11-16 - www.basisbibel.de)

Kein Protestsong gegen den Tod. Aber eine Protestgeschichte. „Junger Mann, ich befehle dir: Steh auf!“ So sagt Jesus zu dem Toten auf der Bahre. Und der Lebende steht auf.
So protestiert Jesus gegen den Tod. Er nimmt ihn einfach nicht hin. Er geht gegen ihn an. Der Tod darf nicht sein. Das gilt für jeden Tod. Und es gilt erst recht für diesen Tod des jungen Mannes.
Zuviel Leben hat der noch vor sich und zu wenig erlebt. Der Tod hat etwas abgebrochen, was noch nicht an seinem Ziel war. Jesus holt ihn zurück ins Leben – damit der junge Mann es vollenden kann, damit ein Ganzes aus dem Bruchstück wird. So steht Jesus gegen den Tod auf, der ein Leben zerschlägt.
Jesus protestiert auch gegen diesen Tod, weil er Wunden bei den Lebenden reißt. Jesus hat Mitleid mit der Mutter des jungen Mannes. Sie hat den Sohn an den Tod verloren, das Kind, dem sie das Leben geschenkt hat. Was sollte sie stärker ins Herz treffen? Und mit dem Sohn verliert sie auch den, der sie am Leben erhält, weil er mit seinem Einkommen für ihr Auskommen sorgt.
Auch deshalb steht Jesus gegen den Tod auf: Weil der Bande zerschneidet, die lebensnotwendig sind. Jesus will die Wunde heilen, die der Tod bei der Mutter geschlagen hat. Also gibt Jesus den jungen Mann seiner Mutter zurück.
So sieht es aus, wenn Jesus gegen den Tod protestiert. Er stellt sich gegen den Tod. Und der Tod hat keine Macht über ihn. Er will das Leben – und der Tod muss seinem Willen nachgeben. Der Tod weicht, das Leben steht auf. Weil Jesus, der Freudenmeister, hereintritt.
„Glaubst du das?“ Jesus fragt das Maria, bevor er Lazarus ins Leben zurückholt. Ich höre diese Frage auch über der Geschichte von dem Jüngling zu Naïn: „Glaubst du das?“
Glaubst du, dass Jesus einen Menschen ins Leben zurückholt? Dass er stärker ist als der Tod? Dass er das Leben durchsetzt?
Glaubst du das? Die Frage verbietet alle Ausflüchte, sie verlangt eine eindeutige Antwort: „Vielleicht“ oder „Ja, aber“ oder „Sowohl als auch“, all diese Nichtantworten sind nicht zugelassen. Nur Ja oder Nein. Nein oder Ja!
Um den bohrenden Zeigefinger vom Brustbein zu bekommen, treten wir einen Schritt zurück und schauen noch einmal auf die Protestgeschichte.

Da sind die, die eindeutig „Ja“ sagen. Wir glauben das. Wir haben es erlebt. Wir waren dabei. Da lag der Tote auf der Bahre. Da war die Mutter, die in ihrem Weinkrampf kaum laufen konnte. Und dann kam Jesus. Der berührte die Bahre, der sprach den Toten an. Der junge Mann richtete sich auf und fing an zu reden. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen.
Es bestehen keine Zweifel, dass das so war. Wir wissen genau, dass der junge Mann tot war. Richtig tot und nicht scheintot. Das war kein fauler Zauber, das war echt.
Deswegen sind wir ja auch so erschrocken, als wir gesehen haben, was geschah. Da gehst du im Trauerzug mit und wünschst dir: Wenn der Tote da doch wieder lebendig werden könnte, damit das Leid zu Ende und das Leben weiter geht.
Und dann geschieht das. Stell dir das vor. Das, was du dir gewünscht hast. Von dem du aber annahmst, dass es nie und nimmer geschehen würde. Wenn es dann doch geschieht: Natürlich erschrickst du dann – du erschrickst beinahe zu Tode, weil der Tod vor deinen Augen aufgehoben wird.
Und dann beginnst du zu loben. Gott zu loben für dieses Wunder. Wenn einer wieder lebendig wird, muss das daran liegen, dass Gott seine Macht zeigt. Als würde er in einem ewigen Augenblick ein Leben neu erschaffen. Alle Regeln des Werdens und Sterbens hebt er auf, alle Grenzen, die der Tod setzt, reißt er nieder. Nur noch das Leben herrscht. Wie ein gleißendes Licht, das alle Schatten vertreibt.
Wir haben das gesehen. Wir haben den großen Propheten gesehen. Wir haben gesehen, dass Gott seinen Menschen zur Hilfe kommt.
Deshalb: Ja, wir glauben, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, weil Gott ihm entgegentritt. Wir glauben, dass Gott einen Menschen aus dem Tod holt.

„Nein, ich kann das nicht glauben.“ Das ist die andere Antwort. Nicht erschrocken und überschwänglich wie die eine. Sondern verzweifelt und ernüchtert.
Es ist die Antwort der Witwe und Mutter, bevor Jesus an die Bahre tritt. Es ist die Antwort all derer, die gerade erst oder vor längerer Zeit am Grab eines Menschen standen, den sie an den Tod verloren.
Nein, ich kann das nicht glauben. Denn was ich erlebe, das ist, wie endgültig der Tod ist. Er ist die Grenze, über die ich nicht komme. Und er ist die Grenze, die keiner vom Tod zurück ins Leben überschreitet.
Manchmal kann ich mit der Grenze leben. Dann, wenn ein Mensch lebenssatt war, und ich sagen kann, dass sein Leben sich erfüllt hat.
Oder auch dann, wenn ich weiß, dass für den Mensch sein Leben kein Leben mehr war und er sich danach sehnte, einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen.
Und doch stoße ich mich an dem Grenzzaun, den der Tod zieht. Er hält mich fern von dem Menschen, der mir fehlt, nach dem ich mich sehne. Ich kann an ihn denken. Ich kann von ihm erzählen. Und wenn ich mich an ihn erinnere, dann ist es manchmal, als wäre er da.
Aber er redet nicht mit mir. Er streichelt mich nicht. Er lächelt mich nicht an. Die Grenze vom Tod zum Leben kann er doch nicht überwinden.
Nein, ich kann es nicht glauben, dass das Leben stärker ist als der Tod. Dass es einen Weg aus dem Tod ins Leben gibt.

So klingt das Nein. Und doch ist das Ja in mir stärker. Ja, ich will es glauben, dass Gott allen Tod überwindet. Sehnsüchtig klingt es in mir und ungeduldig.
Diese Sehnsucht und Ungeduld – ich meine, sie auch bei Jesus zu entdecken, von dem Lukas in seiner Protestgeschichte erzählt. Vielleicht ist es das, was Jesus an die Bahre treibt. Für einen Augenblick, für dieses eine Mal will er schon vorweg nehmen, was noch kommt. Einmal schon das Geheimnis lüften um den großen Plan, den Gott noch mit dieser Welt hat. Den einzuleiten er, Jesus, in die Welt gekommen ist.
Denn diese Welt ist noch nicht, die sie sein soll. Das Leben ist noch nicht, das es werden soll. Voll und ganz soll es werden. Heil und hell.
Was die Bibel am Anfang erzählt: Wie Gott aus dem Nichts die Welt schuf. Und wie er dann alles ansah, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut – das was die Bibel da erzählt, das ist auch ein Versprechen. Es muss erst noch sehr gut werden, wie es am Anfang schon war.
Paulus schreibt nach Rom:
"Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. Und nicht nur sie! Uns geht es genauso... Denn wir warten ebenso darauf, dass Gott uns endgültig als sein Kinder annimmt – und dabei unseren Leib von der Vergänglichkeit erlöst“
(Brief an die Gemeinde in Rom 8,22f. - www.basisbibel.de).
Das will ich glauben, darauf will ich vertrauen: Dass das geschehen wird. Dass Gott seine Schöpfung vom Tod erlöst. Er reißt die Grenzen nieder, die noch der Tod aufrecht erhält. Was im Tod ist, holt er ins Leben zurück.
Deshalb erzähle ich weiter die Protestgeschichten gegen den Tod und singe Protestsongs – bis eines Tages die Sehnsucht so groß ist, dass Gott sie erfüllt.

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