Ihr seid dran mit dem Wunder

Der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken – das ist ein wenig, als würde man einen Stein ins Wasser werfen, der immer weitere Kreise zieht.
Wir können bei den Opfern aus unserer Kirchengemeinde beginnen. In dem Buch auf dem Pult in der Vierung sind ihre Namen aufgeschrieben und ihre Bilder bewahrt. 44 junge Männer waren es im ersten Weltkrieg. 123 dann im zweiten Weltkrieg. Sie tragen die Namen der Familien, die heute noch hier leben. An viele von ihnen werden Sie sich erinnern.
Wir können fortsetzen mit den Vertriebenen und Flüchtlingen, die aus Pommern und Ostpreußen oder auch Hamburg nach Föhr kamen. Die Einwohnerzahl von Wyk etwa verdoppelte sich von nicht ganz 3.000 im Jahr 1939 auf mehr als 6.000 im Jahr 1947. Manche von Ihnen, die heute hier sind, gehören zu denen, die damals auf die Insel kamen und blieben.
Wir können und müssen die Kreise aber noch viel weiter ziehen. 3,25 Millionen deutsche Soldaten fielen im Zweiten Weltkrieg. 3,8 Millionen deutsche Zivilisten starben.
Und weiter: In Europa kamen im zweiten Weltkrieg knapp 20 Millionen Soldaten um und 28 Millionen Zivilisten. Der Völkermord an den Juden rottete 6 Millionen Menschen aus.
Aus dem kleinen Kreis, den der Stein zieht, wird ein Tsunami. Ganz Europa begräbt er unter Schrecken und Leid.
Und Gewalt und Leid sind seit dem zweiten Weltkrieg ja nicht zu Ende. Sie gehen weiter. Mit dem Unterschied, dass diese Kriege für uns meistens nur noch auf dem Bildschirm stattfinden. Die Kriege im Irak und in Afghanistan. Das Morden in Ruanda, in Kenia, im Kosovo.
Wer mag sich diese Bilder schon gern anschauen? Wer kann das Leid ertragen, das unaufhaltsam seine Kreise zieht?

"Die Apostel kehrten zu Jesus zurück. Sie berichteten ihm, was sie getan hatten. Dann nahm er sie mit sich. Er brachte sie in die Gegend bei der Stadt Betsaida, um mit ihnen allein zu sein.
Als die Leute davon erfuhren, zogen sie ihm nach. Jesus wies sie nicht ab. Er erzählte ihnen vom Reich Gottes und machte alle gesund, die Heilung brauchten.
Als es Abend wurde, kamen die Zwölf zu Jesus und sagten: "Lass doch die Volksmenge gehen. Dann können die Leute zu den umliegenden Dörfern und Höfen ziehen. Dort finden sie eine Unterkunft und etwas zu essen, denn wir sind hier in einer einsamen Gegend."

(Lukasevangelium 9,10-12 - www.basisbibel.de)

Jesus muss das Leid ertragen, das auf ihn zuströmt. All die Menschen, die zu ihm kommen, weil sie Hilfe brauchen.
Viel lieber hätte er jetzt seine Ruhe. Wie gerne fände er einen Ort, an den er sich mit seinen Freunden zurückziehen kann. Wenigstens heute will er Pause machen und neue Kräfte sammeln.
Aber sie lassen ihm keine Ruhe. Sie kommen zu ihm. Sie wollen, dass er ihnen die Hand auflegt. Sie wollen hören, was er ihnen zu sagen hat.
Sie lassen ihm keine Ruhe. Er kann das nicht: Für sich bleiben, wenn er weiß, dass da jemand ist, der ihn braucht.
Also macht er, was er immer macht: Mit den Menschen reden. Ihnen Hoffnung machen, dass Gott viel näher ist, als sie denken. Sie segnen, damit sie Gottes Kraft wieder spüren.
Jesus kann das. Aber den Freunden wird es zu viel. „Schick sie endlich weg“, sagen sie zu Jesus. „Wir haben genug davon, dass du dich immer um das Leben anderer kümmerst. Sie sollen sich endlich um sich selber kümmern. Schick sie weg, damit wir unsere Ruhe haben.“

Schick sie weg. Ich kenne das. Diese Gefühl, dass ich endlich Ruhe haben will, weil ich es nicht mehr ertrage. Ich mag sie nicht sehen: Die Bilder aus dem Irak, wo wieder eine Autobombe explodiert. Die Bilder der Flüchtlinge, aufgebahrt in einer Halle auf Lampedusa, nachdem sie im Mittelmeer ertranken. Die Bilder der Kinder, die auf den Philippinen zwischen den Trümmern spielen.
Was soll ich anfangen mit diesem Leid? Wie soll ich damit fertig werden? Wie gut, wenn es weit weg bleibt und ich abschalten kann. Es bleibt das Leid der anderen.

Jesus antwortete ihnen: "Gebt doch ihr ihnen etwas zu essen!"
Da sagten sie: "Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische. Oder sollen wir etwa losgehen und für das ganze Volk etwas zu essen kaufen?"
Es waren nämlich ungefähr fünftausend Männer.

(Lukasevangelium 9,13-14a -- www.basisbibel.de)

„Das Leid der anderen geht uns nichts an.“ „Es geht euch nichts an?“ Jesus sieht seine Freunde an. Er sieht die Menschen. 5.000 Männer. Und Frauen und Kinder. Weit weg von zu Hause, weil sie zu ihm wollten und auf ihn hofften.
Und jetzt soll er sie nach Hause schicken? Was für Ideen sie haben, seine Freunde. Seine Schüler. Haben sie so wenig bei ihm gelernt? Sie wollen sich aus der Verantwortung stehlen. Aber er wird sie nicht lassen. „Gebt ihr ihnen zu essen“, sagt er zu ihnen. „Ihr seid dran.“
Die Freunde heben die Schulter und zeigen Jesus die leeren Hände. „Was wir haben, reicht nicht.“ Was er von ihnen will, ist zu viel verlangt. Sie können nicht 5.000 Menschen satt machen. Weder mit dem, was sie dabei haben. Noch mit dem, was sie wer weiß wo kaufen müssten.
Sie schieben die Verantwortung zurück zu Jesus: „Kümmere du dich.“

Kümmere du dich, Gott. Steh auf. Sorge du für Recht. Setze du den Kriegen, der Gewalt ein Ende. Krieg soll doch nach deinem Willen nicht sein. Wie kannst du ihn dann zulassen? Und das Leid und den Tod von Millionen von Menschen?
Gott muss doch einschreiten – wenn es ihn gibt. Er muss das Töten beenden, die Waffen aus den Händen reißen. Er muss Gericht sitzen über den Gewalttätern und die Mächtigen entmachten. Oder sollte Gott in einem der Kriege gefallen sein?
Aber was, wenn Gott die Verantwortung nicht annimmt? Wenn er sie dem Menschen nicht abnimmt? Wenn er sie uns weiter aufbürdet: Das ist eure Aufgabe. Schwerter zu Pflugscharen zu schmieden. Frieden zu schaffen ohne Waffen. Ihr habt den Krieg losgelassen, nun fangt ihn wieder ein.
Aber wie soll uns das gelingen? Mit dem wenigen, das wir haben. Das Wollen und die Sehnsucht haben wir wohl, aber nicht die Mittel.
Für den Frieden muss jemand anderes sorgen. Einer, der die Macht dazu hat. Einer, der mächtiger ist als alle Krieger. Der Allmächtige. Yes, we can? Ich kann es nicht.

Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: "Sorgt dafür, dass sich die Leute zum Essen niederlassen – in Gruppen zu etwa fünfzig."
So machten es die Jünger und alle ließen sich nieder.
Dann nahm Jesus die fünf Brote und die zwei Fische. Er blickte zum Himmel auf und sprach das Dankgebet dafür. Dann brach er sie in Stücke und gab sie den Jüngern. Die sollten sie an die Volksmenge austeilen.

(Lukasevangelium 9,14b-16 -- www.basisbibel.de)

Jesus kann es. Er nimmt die Sache in die Hand. Ganz pragmatisch, mit hausfraulichem Sachverstand. So einfach sieht das aus.
Die vielen, vielen Menschen sollen sich setzen. Als würde jetzt ein großes gemeinsames Picknick beginnen. Der Hunger und die Not verwandeln sich in einen Ausflug mit gemeinsamen Essen.
Die Leute bilden kleine Gruppen. Aus der großen Masse werden einzelne Nachbarn. Menschen mit einem Namen und einem Gesicht. Plötzlich gehören sie zusammen. Sie teilen ein gemeinsames Schicksal. Und vielleicht können sie noch mehr miteinander teilen.
Jesus kann es. Und er fordert die Jünger auf, mitzutun. Sie müssen ihm helfen. Sie müssen verteilen, was da ist. Fünf Brote und zwei Fische. Das ist ihre Aufgabe.

Das ist unsere Aufgabe: Verteilen, was da ist. Wir dürfen das Leid nicht wegschieben. Weder unseres noch das der anderen. Weder längst vergangenes Kriegsunglück, das immer noch nachwirkt, bis in die nächste und übernächste Generation. Noch aktuelles, das aus dem Bildschirm ins Wohnzimmer ragt. Auch wenn wir es wegzappen: Es geht uns an. Gott entlässt uns nicht aus der Verantwortung.
Aber wer sagt, dass ich für alles Leid der Welt zuständig bin, das wie ein Tsunami auf mich zurollt? Es reicht ein kleines Leid. Eines, das ein Gesicht hat und mir deshalb nahe kommt. Das ich aber auch ertragen kann. Weil es abgegrenzt bleibt.
Da kann jeder etwas tun. An seiner kleinen Stelle etwas gegen das Unglück tun, das andere Menschen trifft. Mit den Feuerwehrkameraden an die Elbe fahren, um Sandsäcke gegen die Flut aufzuschichten. Als Ärztin auf die Philippinen fliegen und Darmtabletten an Kinder verteilen. Auf Facebook dem zur Seite springen, der gemobbt wird. Dem Enkel von den Grauen erzählen, die ich im Krieg erlebt habe - damit er lernt, dass Krieg kein Abenteuerspiel ist.
Ich kann die Hände aus dem Schoß nehmen und etwas tun. Einsetzen, was ich habe und kann. An Zeit und Mut und Phantasie. Und wenn ich die Hände in den Schoß legen, um zu beten.
Das alles, für sich genommen, reicht vielleicht nicht für den Weltfrieden. Und doch ist es schon mehr als genug.

"Dann nahm Jesus die fünf Brote und die zwei Fische. Er blickte zum Himmel auf und sprach das Dankgebet dafür. Dann brach er sie in Stücke und gab sie den Jüngern. Die sollten sie an die Volksmenge austeilen.
Die Leute aßen, und alle wurden satt.
Dann wurden die Reste eingesammelt, die sie übrig gelassen hatten – zwölf Körbe voll."

(Lukasevangelium 9,16-17 -- www.basisbibel.de)

Mehr als genug verteilen die Freunde Jesu. Zwölf Körbe mit Brot bleiben übrig. Welch ein Reichtum. Und welch ein Wunder.
Die Freunde tuscheln miteinander, wie das wohl möglich war. Die satten Menschen aber fragen sich das nicht. Sie staunen nur und freuen sich. Es reicht. Sie sind satt.
Jesus weiß um das Wunder. Er hat genommen, was da war. Er hat es vor Gott ausgebreitet. Das wenige, was sie hatten. Für den Mangel hat er gedankt. Und dann die leeren Hände hingehalten.
Und Gott hat sie ihm gefüllt. Das Wenige, das da war, wandelte Gott in Segen für alle. Das war schon das ganze Wunder.

Ein Wunder, das wäre es, was wir bräuchten. Eines, das die Kriege beendet und den Hass tilgt. Eines auch, das alle Tränen abwischt und die schweren Gedanken fortweht. Ein großes Wunder für den Weltfrieden.
Aber alles muss klein beginnen. Auch die Wunder. Das Wunder fängt da an, wo ich nehme, was ich habe. Die Trauer über das Leid, das der Krieg über Menschen gebracht hat und bringt. Das Erschrecken darüber, was Menschen einander antun können, was ich vielleicht selber aushalten musste. Die Ohnmacht gegen den Krieg. Und auch: Die Sehnsucht nach Frieden. Der Wunsch, zu helfen. Die Wut, die mich drängt, einzuschreiten.
Das Wunder fängt an, wenn ich dafür Gott danke. Wenn ich ihm die leeren Hände hinhalte und er sie mir füllt. Und ich losgehe und ein klein wenig Frieden stifte. An dem Ort, an dem ich bin. Bei den Menschen, mit denen ich leben.
Und dann – dann beginnt der Friede, sich auszubreiten. Wie die Wellen von einem Stein, den ich ins Wasser werfe und der weite Kreise zieht. Davon träume ich.

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