Maria klingelt bei Martha

Maria stößt die Gartenpforte auf. Sie quietscht noch immer. Es ist ein vertrauter Ton. Jetzt erschreckt er sie. Lange hat sie ihn nicht mehr gehört. Sie wendet sich um und drückt die Tür vorsichtig ins Schloss. Sie schaut zum Haus hin. Es ist niemand zu sehen. Aber ein blaues Licht flackert hinter einem Fenster. Ihr ist, als würde sich die Gardine bewegen.
Martha lässt den weichen Stoff los und tritt einen Schritt ins Dunkel des Raumes zurück. Ihr Herz schlägt zu schnell, die Hände werden feucht. Sie schaut auf die Frau, die mit langsamen Schritten auf das Haus zugeht.
Maria bleibt auf dem Plattenweg stehen und wischt sich einen Regentropfen von der Stirn. Sie will den Weg ums Haus zur Hintertür laufen. Sie zögert einen Augenblick. Dann geht sie auf den Vordereingang zu.
Martha blickt sich um. Sie packt den Stapel Wäsche, den sie schon zusammengelegt hat, und trägt ihn ins Schlafzimmer. Dann räumt sie die Zeitungen vom Tisch auf das kleine Regal neben dem Fernseher. Zwei Frauen streiten sich lautlos auf dem Bildschirm. Sie drückt auf den roten Knopf der Fernbedienung. Sie wartet und lauscht.
Maria streift ihre Schuhe auf dem Gitter ab, unter dem Moos wächst. Durch die Glastür kann sie in den Flur sehen. Kleine und große Gummistiefel stehen dort. Marthas Jacke hängt an der Garderobe. Sie ist Zuhause. Maria hebt die Hand und legt sie an die Klinke. Sie sieht den Klingelknopf und nimmt die Hand wieder zurück.
Martha setzt sich auf den Küchenstuhl. Vor einem Jahr hatte sie hier mit Maria gesessen. Sie hatte ihr alles gesagt, was zu sagen war. Maria hatte sich alles schweigend angehört. Dann war sie ohne ein Wort aufgestanden und gegangen.
Maria legt die Hand neben den Klingelknopf, kühl fühlt sich der Backstein an. Sie spürt wie ihr Magen krampft. Seit einem Jahr verknotet er sich immer, wenn sie an Martha denkt.
Martha weiß noch, wie sie an jenem Tag vor Zorn bebte. Endlich war der Damm gebrochen, den ihre Mutter so lange um Maria aufgerichtet hatte.
Ständig hatte die Mutter nach Maria gefragt. Nie war Maria gekommen. Immer war nur sie, Martha, da gewesen. Sie hatte die Mutter gefüttert und gewaschen. Sie war nachts aufgestanden, wenn die Mutter rief. Sie hatte auf den Urlaub verzichtet. Die Mutter aber fragte: „Ob Maria heute kommt?“
Maria erinnert sich, wie sie sich bei den täglichen Anrufen von Martha aufregte. Sie ertrug den Ton nicht, in dem Martha jammerte. Sie wollte die Frage nicht mehr hören: „Maria, wann kommst du? Mutter wartet auf dich.“ Sie hatte doch selber genug zu tun, mit der Kanzlei, den Kindern.
Martha schaut auf die Küchenzeile. Oft hatte sie als Mädchen mit der Mutter dort gestanden. Die Mutter machte den Abwasch und sie trocknete ab. Sie schälte Kartoffeln, die Mutter putzte das Gemüse. Maria verschwand jedes Mal. Die Mutter nahm sie immer in Schutz: „Maria muss doch lernen. Lass Maria doch reiten gehen.“
Maria sieht sich als Studentin, die über die Weihnachtstage aus der großen Stadt nach Hause kam. Sie stand in der Küche, Martha nahm ihr das Handtuch aus der Hand, Mutter schickte sie ins Wohnzimmer. „Unterhalt dich doch mit der Tante.“ Von dort hörte sie Mutter und Martha beim Abwasch lachen.
Martha erinnert sich an den Tag, als Maria verkündete, dass sie aus der großen Stadt zurückkommen und in eine Kanzlei einsteigen würde. Schon am nächsten Tag hatte Mutter alle Nachbarinnen zum Kaffee da und stolz Maria – „unsere Anwältin“ – vorgeführt. Maria spielte in dem Kaffeekränzchen die Dame von Welt.
Maria weiß noch den Tag, an dem Broder auf dem Hof einzog. Aus ihrem Zimmer wurde das gemeinsame Schlafzimmer von Martha und Broder. Wenn sie nach Hause kam, musste sie hoffen, dass eine der Ferienwohnungen frei war – oder auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen.
Martha sieht wieder ihre Mutter vor sich, wie sie mit verdrehtem Körper im Wohnzimmer lag. „Ein Schlaganfall“, sagte der Notarzt. „Ein Glück, dass Sie sie gleich gefunden haben.“ Doch sie erholte sich nie mehr ganz. Fortan war sie auf Hilfe angewiesen.
Maria weiß noch, wie sie Martha überzeugen wollte, dass Mutter im Heim besser aufgehoben wäre. „Ich kann sie nicht weggeben“, hatte Martha geantwortet. „Und ich kann sie nicht pflegen“, hatte Maria entgegnet.
Martha erinnert sich an den letzten Besuch von Maria bei der Mutter. Zwei Tage nach deren Geburtstag war sie gekommen, mit einer Schachtel Pralinen und einer wichtigen Verhandlung auf dem Festland als Entschuldigung. Nach einer halben Stunde verschwand sie wieder.
Maria sieht sich wieder in der Kirche sitzen. Den Sarg vor ihr nahm sie kaum wahr. Von fern drang die Stimme des Pastors zu ihr, der sie immer als Marie ansprach.
Martha fallen die Worte wieder ein, die sie Maria an diesem Tag an den Kopf warf, ohne dass die etwas entgegnete. Das hatte sie erst recht wütend und ihre Stimme noch lauter gemacht. Zum Schluss schrie sie nur noch.
Maria legt sich im Kopf noch einmal die Worte zurecht. Ein Jahr lang hat sie Zeit gehabt, die richtigen für Martha zu finden. Sie fährt sich mit der Hand durchs feuchte Haar und übers Gesicht. Sie streckt den Zeigefinger aus. Im Flur ertönt die Klingel.
Martha schrickt zusammen. Sie zögert einen Augenblick. Dann schiebt sie den Stuhl zurück und steht langsam auf.

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