Nun wartet draußen unser Nächster

Als die Synagogen brannten, blieb die Kirche stumm. Kein einziger Bischof, keine Kirchenleitung wurde zum Anwalt der verfolgten Jüdinnen und Juden. Bereits drei Jahre später schrieb Dietrich Bonhoeffer: „Durch ihr eigenes Verstummen ist die Kirche schuldig geworden an dem Verlust an verantwortlichem Handeln, an Tapferkeit des Einstehens und der Bereitschaft, für das als recht Erkannte zu leiden.“
Und er fragt: „Ist das zuviel gesagt? War denn nicht die Kirche nach allen Seiten gehindert und gebunden? Stand nicht die ganze weltliche Gewalt gegen sie? Durfte denn die Kirche ihr Letztes, ihre Gottesdienste, ihr Gemeindeleben gefährden, indem sie den Kampf mit den antichristlichen Gewalten aufnahm? So spricht der Unglaube.“

Die Kirche blieb stumm. Ein paar Pastoren aber sagten, was zu sagen war. Gleich nach den Übergriffen gingen sie auf das unglaubliche Geschehen ein. Zu ihnen gehörte Helmut Gollwitzer, damals Pastor in Berlin-Dahlem. So beginnt er seine Predigt am Buß- und Bettag, dem 16. November 1938:
„Wer soll denn heute noch predigen? Wer soll denn heute noch Buße predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tage? Können wir heute noch etwas anderes, als nur schweigen? Was hat nun uns und unserem Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthören genützt, die ganzen Jahre und Jahrhunderte lang, als dass wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen, als dass wir heute haben so hereinkommen müssen, wie wir hereingekommen sind?“
Und dennoch: Helmut Gollwitzer muss predigen; er predigt über die Worte,mit denen Johannes der Täufer die Menschen aufruft, umzukehren:

Die Menschen kamen in Scharen zu Johannes heraus, um sich von ihm taufen zu lassen. Er sagte zu ihnen:
"Ihr Schlangen! Wie kommt ihr darauf, dass ihr dem bevorstehenden Gericht Gottes entgeht? Zeigt durch euer Verhalten, dass ihr euer Leben wirklich ändern wollt! Und redet euch ja nicht ein: 'Abraham ist unser Vater!' Denn ich sage euch: Gott kann diese Steine hier zu Kindern Abrahams machen. Die Axt ist schon an die Baumwurzel gesetzt: Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen."
Die Leute fragten Johannes: "Was sollen wir denn tun?"
Er antwortete ihnen: "Wer zwei Hemden hat, soll dem eins geben, der keines hat. Wer etwas zu essen hat, soll entsprechend handeln."
Es kamen aber auch Zolleinnehmer, um sich taufen zu lassen. Die fragten ihn: "Lehrer, was sollen wir tun?"
Er antwortete ihnen: "Verlangt nicht mehr, als in euren Vorschriften steht!"
Es fragten ihn aber auch Soldaten: "Und wir, was sollen wir tun?"
Johannes antwortete ihnen: "Misshandelt und erpresst niemanden und gebt euch mit eurem Sold zufrieden!"

(Lukasevangelium 3,7-13 - www.basisbibel.de)

So redete Johannes der Täufer seinen Zeitgenossen ins Gewissen, damit sie sich um Gottes willen ändern. Und Helmut Gollwitzer versuchte, seinen Zeitgenossen ins Gewissen zu reden. Eine Woche, nachdem der Hass die Menschen und das Land verfinstert hatte. Ich trage weiter aus seiner Predigt vor:

„Ihr Schlangenbrut!“ – so wird hier ein ganzes Volk angeredet (das jüdische Volk). Ein Volk, das nach allen, was wir von ihm wissen, unter keinen Umständen schlechter war als das unsere heute. Ein Volk, das in einem gerechten Selbstbehauptungskampf gegen fremde Unterdrücker stand und sich eifrig befleißigte, die göttlichen Gesetze zu vernehmen und zu befolgen.
Würde der Täufer Johannes heute den gleichen Ruf erheben, so würde er wahrscheinlich als Landesverräter verschrien werden und sicher würde sich in der evangelischen Kirche eine Einheitsfront finden, die ihn als Volksschädling und als Schädling der Kirche verurteilt und die Beziehungen zu ihm abbricht…
Genug Anzeichen sagen es uns, dass die Fronten sich nicht gegenüberstehen, wie schuldig und unschuldig, wie schwarz und weiß, sondern dass wir mit verhaftet sind in die große Schuld, dass wir mit schamrot werden müssen und mit gemeinsamer Schande behaftet sind. Es steckt ja in uns allen; dass man erleben kann, wie biedere Menschen sich auf einmal in grausame Bestien verwandeln, ist ein Hinweis auf das, was mehr oder weniger verborgen in uns allen steckt.
Wir sind auch alle daran beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch die Bequemlichkeit, die allem aus dem Wege geht, durch das Vorübergehen, das Schweigen, das Augenzumachen, durch die Trägheit des Herzens, die auf die Not erst dann aufmerksam wird, wenn sie offen zu sehen ist, durch die verfluchte Vorsicht, die sich durch jeden schiefen Blick und jeden drohenden Nachteil von jedem guten Werk abbringen lässt, durch die törichte Hoffnung, es werde sich schließlich doch alles noch von selbst zum Guten entwickeln, ohne dass man sich mutig dafür einsetzt.
In alle dem werden wir als mitschuldig offenbar, als Menschen, die ihr eigenes Leben und sich selbst lieb haben und die für Gott und den Nächsten gerade noch so viel Liebe übrig haben, als man ohne Mühe und Belästigung abgeben kann …
Was sollen wir denn tun? Zur Antwort rückt dir der Täufer Johannes im Augenblick der Vergebung deinen Nächsten vor die Augen. Die Unbußfertigkeit zerbricht die Brücke von dir zum Nächsten. Die Buße baut diese Brücke wieder neu. Dieser Nächste zeichnet sich durch nichts aus, was man sonst auf Erden braucht, um Hilfe zubekommen; es ist nicht gesagt, dass er ihrer würdig ist; es ist nicht gesagt, dass zwischen ihm und dir sonst noch eine Verbindung besteht, eine Gemeinschaft der Rasse, des Volkes, der Interessen, des Standes, der Sympathie.
Er kann nur das Eine aufweisen, und das eben macht ihn zum Nächsten: er hat nicht, was du hast. Du hast zwei Röcke, er hat keinen, - du hast etwas zu essen, er hat nichts mehr, - du hast Schutz, er ist schutzlos, - du hast Ehre, ihm ist sie genommen, - du hast Familie und Freundschaft, er ist vereinsamt, - du hast noch etwas Geld, er hat keins mehr, - du hast ein Dach überm Kopf, er ist obdachlos. Außerdem ist er dir noch ganz preisgegeben, deiner eigennützigen Gewinnsucht (erkenne dich im Beispiel der Zöllner!) und deinem Machtgefühl (erkenne dich heute im Beispiel des Soldaten!). …
Nun wartet draußen unser Nächster, notleidend, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt, und umgetrieben von der Angst um seine nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf!“
(Hier können Sie die Gollwitzer-Predigt nachhören: http://de.evangelischer-widerstand.de/html/view.php?type=dokument&id=286.)

So predigte damals Helmut Gollwitzer. Deutliche Worte findet er, die auch nach 75 Jahren noch in den Ohren klingen. Er nennt das Unrecht nicht beim Namen – doch wer Ohren hat zu hören, hört, was gemeint ist und was zu tun ist.
Nichts von ihrer Kraft haben Gollwitzers Worte verloren. Aus ihnen spricht, was Dietrich Bonhoeffer einforderte:
„Verweigert die Welt Gerechtigkeit, so wird er [der Christ] Barmherzigkeit üben, hüllt sich die Welt in Lüge, so wird er seinen Mund für die Stummen auftun und für die Wahrheit Zeugnis geben. Um des Bruders willen, sei er Jude oder Grieche, Knecht oder Freier, stark oder schwach, edel oder unedel, wird er auf alle Gemeinschaft der Welt verzichten; denn er dient der Gemeinschaft des Leibes Christi.“
Die Zeiten sind andere geworden seit damals. Aber eines bleibt wahr: Unser Nächster wartet draußen immer noch. Für ihn, den Stummen, müssen wir unseren Mund auftun. Deshalb:
Wenn jemand sagt, das war doch damals alles nicht so schlimm – machen Sie den Mund auf und widersprechen Sie. Es war schlimm.
Wenn jemand sagt, die Ausländer, die wollen doch nur – machen Sie den Mund auf und widersprechen Sie. Kein Vorurteil wird durch dauernde Wiederholung zur Wahrheit.
Wenn jemand ausgegrenzt wird, verhöhnt und verlacht – machen Sie Ihr Herz auf und lassen Sie ihn herein. Er braucht Sie.

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