Dieses Ende ist auch ein Anfang

Eigentlich ist dieser Morgen viel zu klar und zu hell für den Tag heute. Eigentlich müsste er grau und trüb sein. So wie sich der November eben in der Regel zeigt: Kahl und verhangen. Die Natur zieht sich zurück, die feuchte Kälte kriecht in die Knochen.
Der November – er stößt darauf, wie vergänglich das Leben ist. Er führt Ihre Wege heute hierher. An die Gräber derer, von denen Sie sich hier in der Kirche verabschieden mussten.
Dieser Weg ist ein schwerer Weg. Es schmerzt, mich an das Sterben und den Tod eines Menschen zu erinnern, den ich verloren habe. Egal, ob der Abschied nun erst ein paar Wochen zurückliegt, einige Monate oder gar schon Jahrzehnte.
Ob die Wunden schon vernarbt sind oder noch ganz frisch: Es macht neu und wieder traurig, dass er, der mir lieb war, nicht mehr bei mir ist; dass sie, die zu mir gehörte, mir fehlt.
Es gibt Menschen, die vor dem grauen November hier an der Nordsee fliehen. Wie Zugvögel machen sie sich in den Süden auf, um ein wenig Wärme und Licht zu tanken.
Und es gibt auch solche, die wollen der Trauer entfliehen. An manchen Orten beginnen die Weihnachtsmärkte schon an diesem Wochenende. Als solle der frühvorweihnachtliche Trubel die Erinnerung an die Endlichkeit austreiben.

Einen anderen Weg, einen anderen Umgang weisen die Worte Jesu, die das Markusevangelium im 13. Kapitel überliefert:

"Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.
An welchem Tag oder zu welcher Stunde das sein wird, weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater. Passt auf! Seid wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Zeitpunkt da ist.
Es ist wie bei einem Mann, der auf Reisen ging. Er verließ sein Haus und übertrug seinen Knechten die Verantwortung. Jedem teilte er seine Arbeit zu. Dem Wächter an der Tür befahl er: 'Bleib wach!'
Bleibt also wach! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt: spät am Abend, um Mitternacht, beim Hahnenschrei oder früh am Morgen. Wenn er plötzlich kommt, soll er euch doch nicht im Schlaf überraschen.
Was ich euch sage, das sage ich allen: Bleibt wach!"

(Markusevangelium 13,31-37 - www.basisbibel.de)

Wenn Worte nach etwas schmecken können, dann schmecken diese Worte – wie der November – nach Endlichkeit.
„Himmel und Erde werden vergehen.“ Das klingt nach einer nüchternen Feststellung: So ist der Lauf der Dinge. Ja, so ist er. Aber was ist, wenn die Dinge wirklich so laufen?
Wer kann die Zeichen der Endlichkeit im Leben geliebter Menschen oder gar im eigenen Leben ruhig mit ansehen?
Vor ein paar Jahren ist mein Großvater gestorben, 96 Jahre alt ist er geworden. Ein stolzes, ein schönes Alter, ein langes, erfülltes Leben.
Dennoch: Die Monate und Wochen vor seinem Tod waren schwer auszuhalten. Für ihn selber, der sich nach dem Ende seines Lebens sehnte, der nicht mehr mochte, nicht mehr wollte, nicht mehr konnte. Zugleich hielt er lange, lange an seinem Leben fest.
Auch uns, seinen Kindern, seinen Enkeln, fiel diese Zeit schwer: Machtlos an seinem Bett zu sitzen, seine Hand zu halten – und zugleich sein Leben loszulassen, die Endlichkeit seines Lebens anzunehmen.

Sie ist unausweichlich: Die Endlichkeit gehört zu unserem Leben, sie gehört zur Welt. Wir kommen von ihr nicht los. Sie ist Gottes Wille, sagt Jesus: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.“
Durch Gottes Wort wurden Himmel und Erde geschaffen, Gottes Wille ist es, dass Himmel und Erde bestehen, so glauben wir. Solange sie bestehen, wird es Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht geben. Immerhin solange. Aber auch: Nur solange.
Wenn Himmel und Erde einen Anfang hatten, den Gott wollte und setzte, dann werden sie auch ein Ende haben, das Gott will und setzt. Wer an Gott glaubt, der glaubt an seine Ewigkeit – und wer von Gott spricht, der spricht von unserer Endlichkeit. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.“
Ich kann Gott vorwerfen, dass es so ist und nicht umgekehrt. Wo Worte doch sonst Schall und Rauch sind und wo diese Erde und dieser Himmel doch das einzige sind, das wir haben.
Ich kann Gottes Liebe an der Endlichkeit von Himmel und Erde messen. Ich kann sie daran messen, wie endlich das Leben der Menschen ist, die ich lieb habe.
Wenn ich das tue, hat Gottes Liebe einen Anfang und ein Ende. Sie reicht so weit, wie ein Mensch lebt, von seiner Geburt bis zu seinem Tod – und dann fällt sie immer zu klein aus, egal wie lange ein Mensch gelebt hat.
Ich kann Gott das auch vorwerfen: Dass das Leben von Menschen, die ich vermisse, ein Ende hatte, womöglich ein Ende voller Schmerzen.
Ich kann auch an Gott verzweifeln. Es gibt einen Tod, den ich nicht verstehen kann. Es gibt einen Schmerz über den Tod, der alles Vertrauen in das Leben und alles Glauben und Hoffen und Lieben verdunkelt.

Es ist ein Geschenk, wenn ich im Angesicht des Todes etwas anderes wagen kann. Wenn ich den Mut finde, trotzdem in den Glauben zu springen, der mir Gottes Ewigkeit aufschließt.
Ich kann versuchen, die Perspektive zu wechseln und von Gottes Ewigkeit aus auf das endliche Leben zu schauen. Ich kann versuchen, die Endlichkeit der Menschen, die ich liebe, an Gottes Liebe zu messen.
Jesus tut das in dem Gleichnis von dem Mann, der auf Reisen ging und seinen Knechten die Verantwortung für sein Haus übertrug.
Wenn wir dem Bild folgen, dann hat Gott uns seine Schöpfung überlassen, er hat uns die Vollmacht erteilt über seinen Himmel und seine Erde. Wir haben diese Vollmacht auf Zeit. Wir haben sie, bis unser Leben zu Ende geht, bis Himmel und Erde vergehen.
Dann, bald, irgendwann kommt der Herr des Hauses zurück. Dann, bald, irgendwann füllt Gottes Ewigkeit unser Leben, füllt sie Himmel und Erde aus.
Das heißt: Wenn unser endliches Leben sein Ende findet, dann geht es nicht zu Ende. Es geht in Gottes Ewigkeit über. Gottes Ewigkeit nimmt unsere Endlichkeit in sich auf.

Wenn mein Glaube dem Gleichnis folgen kann, dann hat das Folgen für mein Leben. Folgen, die Jesus in einem Wort zusammenfasst, das ich als Mutmacher höre: „Seid wachsam!“
Ich kann wach und gelassen leben, weil ich damit rechne, dass der Herr des Hauses kommt. Ich kann gelassen die Zeichen der Endlichkeit in meinem Leben wahrnehmen. Sie gehören zu dem Leben, wie Gott es will. Ich kann – unter Schmerzen – annehmen, dass mir liebe Menschen sterben. Denn ich vertraue, dass ihr Leben in Gottes Ewigkeit übergeht. Ihre und meine Endlichkeit umfängt der ewige Gott.
Ich kann auch wach und bewusst leben. Ich kann bewusst das Leben leben, das er mir schenkt. Hans Magnus Enzensberger dichtet: „Und, damit ich es nicht vergesse, für den Anfang und das Ende und die paar Minuten dazwischen inständigen Dank.“
So kann ich leben: Jeden Tag des Lebens als Geschenk anzunehmen – mit dem Bewusstsein, dass es in Gottes Ewigkeit zu Ende gehen wird.

So können wir wach leben – angesichts der Zeichen der Endlichkeit, die wir erfahren. Mit dem Geschmack der Endlichkeit, der uns auf der Zunge liegt. Wenn wir es können.
Wie schwer das ist, erfahren Jesus und seine Jünger am letzten Abend, den sie gemeinsam verbringen. „Bleibt hier und wacht mit mir“, bittet Jesus seine Freunde, als er im Garten Gethsemane beten will.
Sie versuchen es, aber es gelingt ihnen nicht. Sie halten nicht aus, was auch wir nicht ertragen: Wachen Auges zu sehen, dass ein anderer Mensch sterben wird.
Auch Jesus selbst hält das kaum aus: Seinem Tod entgegen zu sehen. Die Jünger flüchten vor dem Schmerz in den Schlaf – und auch Jesus liefe gern weg, entginge gern dem Tod.
Aber er kann ihn nicht umgehen. Er geht in den Tod. Er wird hingerichtet. Er erleidet das Ende seines endlichen Lebens. Doch sein Tod zeigt eben auch das ganz Andere des Todes: Dieses Ende ist auch ein Anfang. Der Anfang der Ewigkeit Gottes.
„Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“ So hat Dietrich Bonhoeffer sich an dem Morgen verabschiedet, an dem er hingerichtet wurde. Ob ich das über den Tod eines mir lieben Menschen sagen kann? Dass er ein Ende ist – aber auch der Beginn von etwas Anderem?
Die Jünger haben erfahren, wie dieses ganz Andere beginnt: Sie begegnen dem auferstandenen Christus. Der Geschmack der Endlichkeit verschwindet von ihrer Zunge, sie bekommen einen Vorgeschmack der Ewigkeit.
Vielleicht war dieser Ostermorgen der Jünger so ein Morgen wie heute: Kalt und kahl, weil der Tod und der Schmerz über ihn noch da waren. Und zugleich klar und hell, weil das Leben aufstand und den Tod in sein Licht tauchte.
Vielleicht können Sie darauf hoffen, wenn Sie heute hier auf dem Friedhof oder in Gedanken an den Gräbern der Menschen stehen, die Ihnen fehlen: Als ihr Leben endete, begann für sie Gottes Ewigkeit.

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