Die Liebe anstoßen

Maria und Josef sind in den Tempel nach Jerusalem gekommen. So wie es Menschen seit 800 Jahren tun.
Die Tradition ihres jüdischen Glaubens will es so. Sie fordert, dass Maria kommt. Die Geburt ihres Sohnes hat sie unrein gemacht. 40 Tage lang durfte sie sich dem Heiligen nicht nähern. Und jeder, der rein bleiben wollte, durfte ihr nicht nahe kommen.
Jetzt darf Maria zurückkehren ins gesellschaftliche Leben. Und sie darf wieder ins Heilige – zumindest soweit, wie es Frauen damals erlaubt war. Ein Opfer macht sie wieder rein.
Die Tradition will es so. Sie will auch, dass Maria und Josef ihren ersten Sohn Jesus in den Tempel bringen. „Jede männliche Erstgeburt soll als heilig für den Herrn gelten.“ So sagt es das alte Gesetz, die Thora.
Jeder erstgeborene Sohn gehört Gott. Ihm muss er gebracht und gezeigt werden. Und dann muss er mit einem Geldopfer ausgelöst werden. Maria und Josef bringen dieses Opfer nicht – vielleicht weil Jesus ohnehin ganz und gar Gott gehört, sie können ihn überhaupt nicht auslösen. Aber eigentlich will es die Tradition so.

So wie die Tradition es will, dass wir Kinder taufen. Seit 800 Jahren schon tun Menschen das in dieser Kirche und in diesem Taufstein.
Der Taufstein erzählt von dieser Tradition. Er erzählt davon, dass das Leben bedroht ist. Ein Ungeheuer ist auf dem Stein gerade dabei, einen Menschen zu verschlingen. Er ist schon zur Hälfte im Maul des Drachen verschwunden, mit letzter Kraft hält er sich am Baum des Lebens fest.
Aber es naht Hilfe, ein Ritter mit erhobenem Schwert kommt, um den Menschen aus dem Rachen des Untiers zu befreien. Der Mensch gehört nicht dem Tod, nicht dem Bösen. Er gehört dem Guten, er gehört dem Leben.
So erzählt es der Taufstein, so sagt es die Tradition.

Aber es ist ja immer mehr als bloße Tradition. Oder anders gesagt: Die Tradition trägt sich weiter, weil wir sie immer wieder neu mit Leben und eigenem Erleben füllen.
Ich stelle mir vor, dass Maria und Josef nicht nur in den Tempel gekommen sind, um der Tradition zu entsprechen. Sie sind auch da, weil sie in der Tradition die Nähe Gottes suchen und finden.
Sie wollen Gott zeigen und bringen, was sie von ihm bekommen haben. Das Leben, das sie in den Händen halten, ist ein Geschenk von ihm. Auch wenn Maria dieses kleine Leben zur Welt gebracht hat, sie hat es nicht gemacht, nicht geschaffen.
Das kleine Kind in Marias Arm zeigt Gottes große Kraft. Sie übersteigt weit alle Kraft des Menschen. Kein Menschen verfügt über diese Kraft. Wie sollte er dann über das Leben verfügen, das aus dieser Kraft kommt?
Alles Leben gehört Gott. Weil sie das wissen, kommen Maria und Josef in den Tempel. Sie bringen ihr Kind zu Gott, um es dann neu aus seinen Händen zu empfangen – als Treuhänder und zu treuen Händen.
So habe ich mir das die drei Mal vorgestellt, die wir unsere Kinder zur Taufe gebracht haben. „Eure Kinder sind nicht eure Kinder“, heißt es in einem Text von Khalil Gibran. „Sie kommen durch euch, aber nicht von euch … Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.“
Die Taufe erinnert mich, mahnt mich: Ich darf aus und mit meinen Kindern nicht machen, was ich will. Meine Aufgabe ist es, zu entdecken, was Gott in sie gelegt hat. Er hat sie nach seinem Bilde geschaffen.
Die Taufe macht mir als Vater aber auch Mut: Du darfst das Leben deiner Kinder Gott anvertrauen. Du kannst ihre zarten, kleinen Hände in Gottes Hand legen. Selbst wenn dir einmal die Hand deines Kindes entgleitet – Gott lässt sie nicht los. Der Kampf zwischen Tod und Leben ist entschieden, ehe er begonnen hat. Gott und das Leben gewinnen.

Dennoch: Es bleibt und bewegt doch immer die Frage, was aus diesem Leben wohl wird. Was hat Gott in das Leben gelegt, das er uns anvertraut hat?
Maria und Josef fragen sich das. Und sie bekommen eine Antwort. Simeon gibt sie ihnen, der alte Mann, dem sie im Tempel begegnen. Er singt Gott sein Lob:
„Herr, nun kann dein Diener in Frieden sterben, denn du hast deine Zusage erfüllt. Mit eigenen Augen habe ich das Heil gesehen, das du für alle Völker bereitet hast – ein Licht, das die Nationen erleuchtet, und der Ruhm deines Volkes Israel.“
Natürlich sprengt das den Rahmen alles Vorstellbaren. Aber dieses eine Kind fällt ohnehin aus dem Rahmen: Ein Engel kündigt der staunenden Mutter seine Geburt an. Derselbe Engel verkündet den Hirten die Geburt.
Dieses Kind ist nicht einfach ein weiteres Menschenkind, das Gott zwei Menschen schenkt. In diesem einziggeborenen Sohn schenkt sich Gott selber den Menschen. Er ist eben auch und zuerst Gottes Kind. Sein Name ist Programm: Jeschua – Gott ist Rettung.
Wir kennen die Geschichte dieses Kindes schon, die Maria und Josef und Simeon erst erahnen. Dieses Kind wird nie ganz seinen Eltern gehören.
Als Zwölfjähriger bleibt er heimlich im Tempel, als seine Eltern ihn auf dem Weg nach Hause vermuten, und sagt: Ich muss im Haus meines Vaters sein.
Als Erwachsener stößt er seine Mutter und seine Geschwister von sich und sagt: Nicht ihr seid meine Familie, sondern die, zu denen Gott, mein Vater, mich geschickt hat.
Dieses Kind wird auch nie ganz sich selber gehören. Jesus geht den Weg, den Gott ihn schickt. Er muss das leben, was Gott in ihn gelegt hat.
Auch wenn er sich selber wünscht, dass es anders sein und der bittere Kelch an ihm vorüber gehen möge. Aber Gottes Wille geschieht – und er, das Kind Gottes, schreit am Kreuz nach Gott, von dem er sich verlassen glaubt. Um am Ende, das kein Ende ist, dann doch seinen Geist in Gottes Hände zu geben.
„Er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird – so sehr, dass auch dir ein Schwert durch die Seele dringen wird“, muss Maria von Simeon hören.

Was wird es sein, was sie ihrem Sohn Jesus wünscht? Das, was wir unseren Kindern wünschen? Gesundheit, ein langes Leben, Freunde, Glück, Zufriedenheit …
„Das Schönste aber hier auf Erden / ist lieben und geliebt zu werden.“
Von Wilhelm Busch ist dieser Vers. Ein Vers, der sagt, worauf es im Leben ankommt.
Ich kann diesen Satz als Aufforderung hören. Als Aufforderung mein Kind zu lieben. Das ist im Grundsatz eigentlich ganz einfach. Vertrackt wird es erst in der Ausführung: Heißt lieben, das Kind mit aufs Sofa im Wohnzimmer zu nehmen, wenn es nicht schlafen will? Oder es in seinem Bettchen schluchzen zu lassen, bis es schläft?
Wie zeige ich meinem Kind eigentlich, dass ich es liebe? Eltern stehen jede Minute vor dieser Frage, auf die es immer mindestens zwei Antworten gibt. Damit das Lieben nicht zu einfach wird.
Viel lieber höre ich diesen Satz als Zustandsbeschreibung: Die Liebe ist schon längst da.
Kinder, solange sie klein sind, haben daran keinerlei Zweifel: Meine Eltern lieben mich. Und rücksichtslos lieben sie ihre Eltern zurück. Selbst wenn die mit ihnen schimpfen.
„Die können gar nicht ernstlich böse sein. Sie lieben mich ja. Und ich, ihr Kind, liebe sie.“
Nur wir Erwachsenen, wir übersehen das immer mal wieder, wenn uns unsere Kinder zur Weißglut bringen.
„Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.“
Das ist nicht von Wilhelm Busch, sondern von Paulus.
Ob er bei diesem Satz an die Liebe von Kindern gedacht hat? Oder an die von Eltern? Ob er ihn eher als Aufforderung oder als Zustandsbeschreibung gedacht hat?
Womöglich geht das eine nicht ohne das andere. Nur wenn ich diese Liebe erlebt habe, kann ich mit ihr lieben. Nur wenn ich als Kind rücksichtslos geliebt habe und diese Liebe ungebrochen zurückkam, werde ich mit dieser Liebe auch meinen Kindern begegnen können, damit sie wieder lieben.

Einmal muss die Liebe angestoßen werden, bevor sie niemals aufhören kann. Aber wann und wo?
Vielleicht ist es der heilige Augenblick, in dem ich das erste Mal mein Kind im Arm halte. Als würde es mich mit einer ewigen Liebe anstecken. Warm fühlt sie sich an und breitet sich in mir wie überschwappendes Glück aus.
Und vielleicht weckt es in mir auch die ganz tiefe Erinnerung an den Augenblick, in dem ich selber als kleines Kind das erste Mal in den Armen der Mutter, des Vaters lag und das Glück spürte und die Liebe, die ich aus der Ewigkeit mitbekam.
Vielleicht ereignet sich die Liebe so zwischen Kindern und Eltern. Und vielleicht ereignet sie sich so auch zwischen Gott und Mensch.
Paul Gerhardt jedenfalls dichtet davon: „Ich steh' an deiner Krippen hier“. Er dichtet von dem Augenblick, als er sich vor dem inneren Auge Jesus in der Krippe ansieht. Und er sieht, wie Gott ihn durch das Kind anblickt und liebt. Und das stößt in ihm die Liebe an. Er muss singen:
„Ich sehe dich mit Freuden an / und kann mich nicht satt sehen, / und weil ich nun nichts weiter kann, / bleib ich anbetend stehen.“
Was tun Maria und Josef anderes, als sie Jesus zu Gott in den Tempel bringen? Was tun wir anderes, wenn wir taufen?
Sie und wir bleiben anbetend stehen – im Angesicht der Liebe und des Lebens, die von Gott kommen.

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