Die Silbermünze in der offenen Hand

In der Faust halte ich eine Münze. Die Silbermünze, die er mir gegeben hat. Ich habe sie mir sauer erarbeitet.
Den ganzen Tag habe ich den Rücken krumm gemacht und Reben beschnitten. Ranke um Ranke, Reihe um Reihe. Der Rücken tut weh. An der Hand habe ich eine Blase vom vielen Schneiden.
Eigentlich ist die Silbermünze ja in Ordnung. Das ist der vereinbarte und übliche Tageslohn. Bezahlung nach Tarif. Davon können ich und meine Familie leben.
Und wenn ich will, kann ich morgen wiederkommen. Arbeit ist noch da. Und Geld, das ich verdienen kann. Dennoch: Ich bin unzufrieden.
Denn der dahinten, der spielt auch mit einer Silbermünze. Aber der hat keine Rückenschmerzen und keine Blase an der Hand. Der hat nicht den ganzen Tag geschuftet.
Eine Stunde war der da. Hat ein bisschen die Reben zusammengetragen, hat mit ihnen ein Feuer angezündet und dann daneben gestanden und hin und wieder mit der Forke neue Reben nachgelegt.
Weniger hat er gearbeitet. Viel weniger als ich. Aber der Lohn, der ist derselbe. Er hat für die eine Stunde bekommen, was ich für zwölf Stunden bekommen habe.
Was sagt ihr dazu?

„Was sollen wir dazu sagen? Ist Gott nicht ungerecht?“
(Römer 9,14 -- www.basisbibel.de)

Es könnte unsere Frage sein. Ist Gott nicht ungerecht? Den einen beschenkt er für eine Stunde Arbeit mit einem Tageslohn. Großzügig ist das und freundlich. Den anderen aber schickt er den ganzen Tag in seinen Weinberg, damit der sich denselben Tageslohn verdient. Das ist doch ungerecht.
Dem einen schaut Gott dabei zu, wie der sich sein ganzes Leben lang bemüht, ein guter Mensch zu sein, und beständig die Nähe Gottes sucht. Und den anderen lässt Gott tun, was dem in den Sinn kommt – selbst wenn es nichts Gutes ist, was er tut.
Am Ende gibt Gott beiden dasselbe, am Ende sind sie beide Gott nah. Der eine bekommt es geschenkt. Der andere hat es sich hart verdient.
Da ist die Frage doch berechtigt: Ist Gott nicht ungerecht?

Paulus antwortet der Gemeinde in Rom und uns:
„Auf keinen Fall. Gott sagt ja zu Mose: Ich werde dem mein Erbarmen schenken, mit dem ich Erbarmen habe. Und ich werde dem mein Mitleid zeigen, mit dem ich Mitleid habe. Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an. Gott entscheidet frei, wem er sein Erbarmen schenkt.“
(Römer-Brief 9, 14b-16.18 -- www.basisbibel.de)

Ich weiß, sagt der Arbeiter im Weinberg zu seinem Arbeitgeber. Ich weiß: Du bist der Chef. Du legst den Vertrag fest. Du bestimmst den Lohn. Du kannst mit deinem Geld machen, was du willst. Du kannst einen ganzen Tageslohn an den verschenken, der nur eine Stunde was tut. Meinetwegen kannst du es auch einfach so an die verteilen, die auf dem Dorfplatz herumlungern.
Aber was soll ich davon halten? Ich fühle mich ausgenutzt und über den Tisch gezogen. Ich mache mich den ganzen Tag für dich krumm. Und dann bekomme ich dafür nicht mehr als der, der kaum etwas tut. Wieso sollte ich dann morgen den ganzen Tag etwas für dich tun? Ich habe dazu keine Lust mehr.
Ich will nicht der Spielball deiner Willkür sein. Nur weil es dir so gefällt und du die Macht dazu hast, beschenkst du den anderen – und indem du das tust, demütigst mich.
Nichts kann mich dazu bringen, weiter in deinem Weinberg zu schuften.

Paulus kennt den Einwand. Er schreibt nach Rom:
„Du könntest jetzt sagen: 'Wieso zieht Gott uns überhaupt zur Rechenschaft? Seinem Willen kann sich doch niemand widersetzen!'“
(Römer-Brief 9,19)

Das klingt nach Aufgeben: Gott macht doch ohnehin, was er will. Entweder er schenkt seine Nähe. Oder eben nicht. Entweder er segnet das Leben mit dem, was gut tut. Oder eben nicht.
Was kann einer da schon tun? Wenn er Gott nicht wenigstens ein bisschen beeinflussen kann mit dem, was er tut. Wenn Gott nicht wenigstens ein wenig darauf schaut, wie eine lebt. Dann ist doch egal, was sie tut oder lässt.
Das ist traurig. Und das macht trotzig. Wenn es Gott egal ist, was einer tut, dann kann ja jeder machen, was er will. Wenn Gott willkürlich einen Lebensweg segnet oder nicht, dann kann jede den Weg gehen, den sie gehen will.
Was soll einer nach Gott fragen, wenn der nicht nach ihm fragt und danach, wie er lebt? Wieso soll eine auf Gott schauen, wenn der nicht auf sie schaut und ihre Art zu leben?
Wozu überhaupt noch Gott, wenn der nicht den Menschen und sein Leben zum Maßstab macht dafür, wie er seinen Segen verteilt?

Wozu!? Paulus schreibt nach Rom:
„Du Mensch, wer bist du eigentlich, dass du dir anmaßt, mit Gott zu streiten! Sagt etwa ein Gefäß zu dem, der es geformt hat: 'Warum hast du mich so gemacht?' Hat nicht der Töpfer alle Macht über den Ton? Er kann doch aus ein und demselben Tonklumpen verschiedene Gefäße herstellen: eine Schale für die Festtafel genauso wie einen Nachttopf.“
(Römer-Brief 9,20-21 -- www.basisbibel.de)

Der Arbeiter im Weinberg hört, wie sein Arbeitgeber ihm antwortet: Du kannst dich aufregen und ärgern über das, was du von mir bekommen hast und was ich dem anderen gegeben habe. Und du kannst auch gern versuchen, an anderer Stelle eine Arbeit und ein Auskommen zu finden.
Aber: Du wirst an mir und meinem Weinberg nicht vorbeikommen. Du bist auf mich angewiesen. Nicht ich brauche dich – du brauchst mich. Die Arbeit, die du leistest, die kann auch ein anderer tun. Aber wer gibt dir Arbeit – außer mir? Und wenn: Wer gibt dir die Silbermünze, die ich dir gebe?
Ich bin der Herr des Weinbergs. Du bist nur ein Arbeiter.

Du bist nur ein Tongefäß, sagt Paulus. Du Mensch bist eine Schale für die Festtafel oder ein Nachttopf. Gott der Töpfer, macht aus dir, was er aus dir macht. Denn er hat die Macht dazu.
Und Paulus schreibt nach Rom:
"Jetzt stellt euch einmal vor: Gott will zwar seinen Zorn zeigen und seine Macht offenbaren. Aber dennoch hat er die Gefäße, die seinen Zorn erregen, mit großer Geduld ertragen – also Gefäße, die eigentlich zum Zerschlagen erschaffen wurden. Und gleichzeitig will er seine ganze Herrlichkeit an den Gefäßen offenbaren, denen sein Erbarmen gilt. Denn die hat er zuvor für die Herrlichkeit bestimmt. Solche "Gefäße" sind wir. Uns hat Gott berufen."
(Römer-Brief 9,22-24a -- www.basisbibel.de)

Gott ist der Töpfer. Der Töpfer kann mit den Gefäßen machen, was er mit ihnen macht. Aber was macht er mit ihnen?
Eigentlich müsste er sie zerschlagen: Sie haben alle einen Sprung. Wenn man sie vorsichtig anschlägt, klingen sie nicht. Bei manchen muss man fürchten, dass sie gleich auseinanderbrechen. Andere sind gar nicht mehr zu benutzen. Allenfalls könnte er sie zu einer Polterhochzeit mitnehmen.
Aber das hat er nicht vor. Der Töpfer zerschlägt die Gefäße nicht. Behutsam stellt er sie vor sich hin. Er schaut sie an. Sie sind schön. Er hat sie selber getöpfert. Er erinnert sich genau, wie er den Ton nahm, sie formte und drehte, sie brannte und glasierte – bis sie seine Gefäße waren. Er will sich nicht von ihnen trennen, er muss sie bewahren. Jedes von ihnen zeigt etwas von der Liebe, mit der er sie töpferte.
Deshalb bleiben sie trotz der Sprünge und abgeplatzten Ecken schön. Es sind seine Gefäße, seiner Hände Werk.
Gott hat immer noch und weiter Verwendung für seine Gefäße. Er füllt sie mit seiner Liebe.

Er hat mir wieder die Hand gefüllt, sagt der Arbeiter im Weinberg. Hier, in meiner offenen Hand liegt eine neue Silbermünze.
Ich bin heute doch noch einmal mit ihm gegangen, als er auf den Marktplatz kam. Ich habe wieder den ganzen Tag in seinem Weinberg gearbeitet, bin von Weinstock zu Weinstock und habe die Reben geschnitten.
Und als dann Abend war und der Verwalter den Lohn verteilte – da bin ich zu ihm hingegangen und habe meine offene Hand hingehalten. Und er hat mir die Silbermünze hineingelegt.
Es ist die gleiche Münze wie gestern. Aber sie fühlt sich anders an. Ich versuche sie zu sehen, wie die Arbeiter sie sehen, die nur eine Stunde gearbeitet haben. Ich versuche sie als Geschenk zu sehen.
Tatsächlich: Die Blase an der Hand und der schmerzende Rücken, die spüre ich gar nicht. Die Münze leuchtet in der Abendsonne – wie der ganze Tag in der Abendsonne erstrahlt.

Was, wenn ich so lebe: Ich halte Gott meine offene Hand hin. Ich forme sie zu einer Schale, in die er seine Liebe hineinlegen kann.
Ich weiß: Das ist anstrengender, als nach dem Lohn zu greifen, von dem ich meine, dass er mir zusteht. Es verlangt Geduld, bis kommt, was ich brauche. Es verlangt auch Vertrauen, dass ich überhaupt etwas bekomme.
Aber es macht mich auch frei. Was Gott mir dann in die Hand legt, ist ein Geschenk. Nichts Selbstverständliches, was ich mir verdient hätte. Sondern etwas Überraschendes, das meinen Tag, mein Leben zum Leuchten bringt. Was Gott mir in die Hand legt, strahlt in der Abendsonne – der ganze Tag beginnt, in Gottes Licht zu erstrahlen.

Und in mir klingt eine Melodie an: Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Amen.

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