Unterm Kreuz

Karfreitag ist ein Tag im Angesicht des Todes. Es fehlen die Worte. Zumindest die Antworten, die das Herz ein für allemal beruhigen, weil sie alle Fragen restlos aufklären und dem Geschehen einen unbestreitbaren Sinn geben. Wie konnte es dazu kommen, dass Jesus hingerichtet wurde? Warum musste er am Kreuz sterben? Wozu musste er diesen elenden Tod erleiden?
Im Angesicht des Todes hilft es manchmal, zu singen. Es kann helfen, ein Lied anzustimmen, das schon viele Menschen vor mir gesungen haben, die mitten in der Trauer steckten und keine Antworten fanden.
„O Haupt voll Blut und Wunden“ ist so ein Lied, das dem Herzen Antworten gibt, wo der Kopf keine mehr findet. Wer es singt, stellt sich unter das Kreuz. Er erschrickt, dass Jesus so grausam stirbt. Er schaut den an, der am Kreuz leidet und wird von den bangen Fragen überfallen.
Aber während er singt, beginnt er einen Sinn zu ahnen, der sich hinter dem Kreuz auftut. Mehr mit dem Herzen allerdings als mit dem Kopf.
Dass Jesus dort hängt und stirbt, das hat etwas mit mir zu tun. Das geschieht meinetwegen und für mich. Wenn er dort stirbt, ist er mir ganz nahe. Aber will ich ihm dann ganz nahe sein?

Im Angesicht des Todes am Kreuz haben auch die ersten Christen ein Lied gesungen. Ein altes Lied, das schon Jahrhunderte alt war, als sie es anstimmten. Es ist ein Lied, das der jüngere Jesaja gedichtet hat, mehr als 500 Jahre vor Jesu Geburt.
Als er das tat, hatte er sicher nicht Jesus im Sinn. Und doch: In seinen Worten fanden die ersten Christen für ihre Herzen Antworten auf die Fragen, die ihr Kopf ihnen stellte. Und vielleicht stimmen auch unsere Herzen in das Lied mit ein.

Wie ein Säugling wuchs er auf vor ihm
und wie eine Wurzel aus dürrem Land.
Er hatte keine Gestalt und keine Pracht,
dass wir ihn angesehen hätten,
und sein Aussehen war nicht so,
dass er uns gefallen hätte.
Verachtet war er und von Menschen verlassen,
ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut
und wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt,
ein Verachteter, und wir haben ihn nicht geachtet.
Doch unsere Krankheiten, er hat sie getragen,
und unsere Schmerzen hat er auf sich genommen.
Wir aber hielten ihn für einen Gezeichneten,
für einen von Gott Geschlagenen und Gedemütigten.
Durchbohrt aber wurde er unseres Vergehens wegen,
unserer Verschuldungen wegen wurde er zerschlagen,
auf ihm lag die Strafe, die unserem Frieden diente,
und durch seine Wunden haben wir Heilung erfahren.

(Jesaja 53,2-5 – Zürcher Übersetzung)

Manchmal begegnen wir Menschen, die wir nur schwer anschauen können. Am liebsten schauen wir knapp an ihnen vorbei.
Wir halten es nicht aus, in ein Gesicht zu sehen, das der Alkohol aufgedunsen und verwischt hat. Wir schlagen die Augen nieder, wenn uns von einem Bild die Augen eines Kindes anstarren, das der Hunger ausgezehrt hat. Wir weichen dem Augenkontakt aus, wenn ein Bettler uns die Hand entgegenstreckt und mit den Augen anfleht.
Im Gesicht Jesu spiegeln sich alle diese Gesichter. Wenn wir unter dem Kreuz stehen und ihn anschauen, dann blicken wir dem Leid der Welt in die Augen – und durch die Augen des Gekreuzigten sieht es uns an, verzweifelt und verlassen.
Wenn wir es aushalten, ein wenig länger hinzuschauen, dann erkennen wir auch uns selber: Wir sehen uns selbst – als die, die Leid verursachen.
Wir geben Menschen auf, die am Leben verzweifeln. Wir halten Menschen von unserem Reichtum fern. Wir grenzen Menschen aus und machen sie zu Einsamen. So fällt ihr Leiden, das ich nicht anschauen will, auf mich zurück.
Dass Jesus dort am Kreuz hängt, geschieht meinetwegen: Er trägt das Leid, das ich verursache. Aber es geschieht auch für mich: Er trägt das Leid, dessen Folgen ich tragen müsste.

Wie Schafe irrten wir alle umher,
ein jeder von uns wandte sich seinem eigenen Weg zu,
der HERR aber ließ ihn unser aller Schuld treffen.
Er wurde bedrängt,
und er ist gedemütigt worden,
seinen Mund aber hat er nicht aufgetan
wie ein Lamm, das zur Schlachtung gebracht wird,
und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt.
Und seinen Mund hat er nicht aufgetan.

(Jesaja 53,6-7 – Zürcher Übersetzung)

Schaffen wir es, dem Blick, den uns Jesus vom Kreuz zuwirft, länger zu begegnen? Oder sind wir wie die Schafe, die kurz aufblicken und dann weiter grasen?
Manchmal sind wir wie Schafe, die ihren Blick von Grasbüschel zu Grasbüschel richten. Wir gehen dem nach, was uns satt machen soll. Ich möchte Erfolg haben mit dem, was ich unternehme. Ich möchte anerkannt werden. Ich wünsche mir Reichtum, der sorglos machen soll. Ich strebe nach Macht, über andere zu bestimmen.
Wir zupfen uns von Grasbüschel zu Grasbüschel, bis wir den Weg verloren haben.
Die Grasbüschel werden weniger, weil wir uns nach und nach in der Wüste verlieren – oder andere die Wiese der Sehnsüchte vor uns abgrasen.
Der Blick, den Jesus uns vom Kreuz zuwirft, ist ein klarer Blick: Er sieht die leer gefressene Wiese. Er erkennt, dass das, was wir suchen und finden, uns oft genug nur kurzfristige Völlegefühle bereitet, denen anhaltendes Bauchgrimmen folgt.
Es ist ein Blick voller Tränen: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Sie wissen nicht, dass sie ihr Leben verfehlen. Sie wissen nicht, dass sie anderen Menschen das Leben unmöglich machen. Sie wissen nicht, dass sie Gott aus ihrer, nein: aus seiner Welt vertreiben.
Jesus wendet den Blick nicht ab. Er schaut auf das, was Menschen Menschen antun. Er schaut auf das, was Menschen ihm antun. Und er wartet, dass wir ihn anschauen.

Aus Drangsal und Gericht wurde er herausgenommen,
doch sein Geschick – wen kümmert es?
Denn aus dem Land der Lebenden wurde er herausgeschnitten,
der Schuld meines Volks wegen hat es ihn getroffen.
Und bei Frevlern gab man ihm sein Grab
und bei Reichen, als er starb,
obwohl er keine Gewalttat verübt hatte
und kein Trug in seinem Mund war.
Dem HERRN aber gefiel es, ihn mit Krankheit zu schlagen.

(Jesaja 53,8-10a – Zürcher Übersetzung)

Bevor der Schrecken kein Ende findet, kommt ein Ende mit Schrecken: Jesus stirbt. Der Schrecken an diesem Ende: Es ist Gottes Plan und sein Wille.
Es ist Gottes Plan, dass die Welt den Spiegel vorgehalten bekommt: Am Kreuz soll sie sehen, was sie anrichtet. Sie soll sehen, wo der Weg endet, den sie einschlägt.
Leben wird vernichtet, das nie und nimmer ein unwertes sein kann, ist es doch Gottes Schöpfung.
Es ist Gottes Wille, dass die Menschen endlich dem Leiden ins Auge sehen. Die Menschen sollen ertragen, was sie auf die leichte Schulter nehmen: Dass viele Menschen solange an den Rand geschoben werden, bis sie in den Abgrund stürzen.
Es ist Gottes Plan, dass wir es sehen. Dass wir auf unserem Weg über das Kreuz stolpern und aufschauen – und dann einen anderen Weg einschlagen.

Wenn du ihn zur Tilgung der Schuld einsetzt,
wird er Nachkommen sehen, wird er lange leben,
und die Sache des HERRN wird Erfolg haben durch ihn.
Der Mühsal seines Lebens wegen wird er sich satt sehen,
durch seine Erkenntnis wird er, der Gerechte, mein Diener, den Vielen Gerechtigkeit verschaffen,
und ihre Verschuldungen, er wird sie auf sich nehmen.
Darum werde ich ihm Anteil geben bei den Vielen,
und mit Starken wird er Beute teilen
dafür, dass er sein Leben dem Tod hingegeben hat
und sich den Übeltätern zurechnen ließ.
Er hat die Sünde vieler getragen,
und für die Übeltäter trat er ein.

(Jesaja 53,10b-12 – Zürcher Übersetzung)

Gott sei Dank geht sein Plan noch weiter. Über das Leiden hinaus. Durch den Tod hindurch. Weil Jesus leidet, endet etwas. Und weil Jesu stirbt, geht etwas verloren.
Jesus leidet. Gott bricht aus der Spirale der Gewalt aus. Die Spirale geht so: Auf die Gewalt des Unrechts folgt die Gewalt der Strafe. Auf sie folgt neue Gewalt, auf die wieder neue Gewalt folgt.
Aber Jesus leidet. Gott übt gewaltlosen Widerstand: Er setzt sich dem Unrecht aus. Anstatt den Mächtigen zu zeigen, dass er der Allmächtige ist, wird er ohnmächtig: Er lädt sich das Leid der Welt auf.
Jesus stirbt. Gott hebt das Gesetz des Stärkeren auf. Er steigt aus dem Spiel aus, in dem gewinnt, wer zuletzt obenauf zu liegen. Er macht sich freiwillig zum Schwächeren.
Jesus stirbt. Gott kündigt den Vertrag auf, in dem es Auge um Auge, Zahn um Zahn geht. Er hält einfach die andere Wange hin und lernt, seine Feinde zu lieben.

Gott schlägt am Kreuz einen anderen, einen neuen Weg ein. Wir können es mit ihm tun – vielleicht mit dem alten Lied auf den Lippen, das die ersten Christen über den Jesus am Kreuz sangen.
Jesus hält uns den Spiegel vor. Das Leid, das wir an ihm sehen, haben wir verursacht.
Jesus erträgt das Leid, das wir nicht ertragen wollen. Er nimmt auf sich, was wir von uns wegschieben.
Jesus leidet, weil er überwinden will, was Leiden verursacht. Er breitet die Arme am Kreuz weit aus und fällt so der Gewalt in den Arm.

Vielleicht ist uns aber auch das Lied von Paul Gerhardt eingängiger: „Nun, was du Herr erduldet, ist alles meine Last; ich hab’ es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.“ Amen.

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