Das mit dem Wunder, das lernst du schon noch

Das Mädchen wirft den Stift weg. „Mama, das geht nicht!“, ruft es laut.
Die Mutter kommt und schaut der vierjährigen Tochter über die Schulter. Lauter Kringel sieht sie dort. Mit etwas gutem Willen ist der Name des Mädchens zu erkennen.
Die Mutter nimmt den Stift und schreibt den Namen langsam und deutlich auf das Papier. „So geht das, siehst du?“
Das Mädchen versucht es noch einmal. Aber schon wieder sehen seine Kringel ganz anders aus als die der Mutter. Das Mädchen haut mit der Faust auf den Tisch.
Die Mutter streichelt ihrer Tochter über den Kopf. „Das lernst du schon noch. Komm mal erst in die Schule.“
„Ich will das aber nicht lernen!“, antwortet das Mädchen, „ich will das können!“

„Du kannst das“, sagt die Mutter zu ihrem Sohn, doch der schüttelt den Kopf. „Er kann das“, sagt die Mutter zu den Männern, die dabei stehen. „Tut alles, was er euch sagt.“
Und Jesus tut, was er kann, obwohl er es nicht will. „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, sagt er. „Es ist noch nicht so weit. Gebt mir noch etwas Zeit.“
Doch Maria, seine Mutter, lässt ihm die Zeit nicht. Die Zeit drängt. Das Fest braucht den Wein. Es braucht die Fülle, das Leben, die Freude, die Lust.
Jesus tut, was er kann. Er muss es nicht lernen. Er kann es, einfach so.
Da stehen sechs Tonkrüge. Sie sind dazu da, mit Wasser gefüllt zu werden, um sich zu reinigen. Vom Staub der Straße, um sich für das Fest vorzubereiten. Und vom Dreck des Alltags, um sich für Gott fein zu machen.
Jesus tut, was er kann. Aus dem Wasser wird Wein. Ein besonderer Tropfen, der das Fest zu einem Ereignis macht. „Der Wein ist gut, zu gut sogar!“; sagt der Festmeister.
Aber nein, der Wein ist gerade richtig für das Fest, auf dem auch Jesus tanzt.
Das war das erste Zeichen, sagt das Johannesevangelium. Es zeigt: Jesus kann das. Wo eben noch Wasser war, ist jetzt Wein. Wo es eben noch am Entscheidenden fehlte, herrscht jetzt Fülle im Überfluss.
Eben mussten sich die Menschen waschen, um sich für Gott fein zu machen. Jetzt feiern sie in seiner Gegenwart ein rauschendes Fest.
Jesus kann das. Wo er ist, ist die Fülle. Wo er zu einem Fest kommt, bringt er Gott mit. Wem er begegnet, der hat das Leben.
Maria, die Mutter, weiß das. Alle anderen sollen das auch sehen.

„Ich sprach nachts: Es werde Licht! / Aber heller wurd' es nicht. / Ich sprach: Wasser werde Wein! / Doch das Wasser ließ dies sein. / Ich sprach: Lahmer, Du kannst geh'n. / Doch er blieb auf Krücken stehn. / Da ward auch dem Dümmsten klar, / dass ich nicht der Heiland war.“
Robert Gernhardt hat so gedichtet. Jesus kann das. Ich kann es nicht. Dabei würde ich es gern können.
Ich meine nicht so ein kleines Wunder zwischendurch, für den Alltagsgebrauch. Mit einem Wort Licht machen, statt lange nach dem Schalter zu suchen, etwa. Oder für neuen Wein zu sorgen, wenn ich vergessen habe, welchen zu kaufen. Oder den Schnupfen zu heilen, ohne zu warten, dass er abklingt.
Es wäre schon schön, wenn ich das könnte. Aber darum geht es mir gar nicht. Was ich gern können würde, ist das, wofür das Zeichen steht. Das ist das, was das Wunder zeigt.
Es verspricht: Gott ist da, er zeigt sich dir. Du kannst ihn sehen, spüren, erfahren. Du kannst von seiner Fülle kosten. Der Quell des Lebens sprudelt neben dir.
Das würde ich gern machen können: Augenblicke, die bis zum Rand gefüllt sind, die überfließen, weil Gott da ist. Einmal und immer wieder. Das wäre das Wunder: Eine Hoch-Zeit in Gottes Nähe.

Da beugt sich Paulus über meine Schulter und sieht die Kringel, die ich aufs Papier bringe, und nickt bedächtig und sagt: „Das mit dem Wunder, das lernst du schon noch. Fang doch erst mal damit an.“
Und er nimmt den Stift und schreibt vor, was ich nachschreiben kann.

„Eure Liebe soll aufrichtig sein. Verabscheut das Böse und haltet am Guten fest. Liebt einander von Herzen als Brüder und Schwestern. Übertrefft euch gegenseitig an Wertschätzung.“
(Brief an die Römer 12,9-10 -- www.basisibel.de)

Da bleibe ich hängen. „Übertrefft euch gegenseitig an Wertschätzung.“
Ich fühle mich ertappt: Wie lustvoll ist es doch, sich über einen anderen den Mund zu zerreißen. Ihm genüsslich seine Fehler unter die Nase zu reiben. Das macht Spaß. Mehr jedenfalls, als den anderen zu loben.
Ich erinnere mich, wie ich das erlebt habe. Nein, nicht, dass mich einer nieder machte. Sondern dass mich einer mit seiner Wertschätzung übertraf.
Der lobte mich für das, was er von mir sah. Ich wusste: So gut war ich nicht, ich konnte noch besser. Aber ich nahm dem anderen seine Wertschätzung ab. Und ich machte es noch einmal – und mir gelang, was ich mir selber nicht zugetraut hatte. Das, was der andere in seiner Wertschätzung für mich schon vorher gesehen hatte.
Und ja: War das nicht ein Wunder? Ein Augenblick, der Wasser in Wein verwandelte? In dem etwas von Gottes Fülle überfloss in sein und mein Leben?

„Das mit dem Wunder, das lernst du schon noch.“

Ich mache weiter mit Paulus:
„Lasst nicht nach in eurem Eifer. Seid mit Begeisterung dabei und dient dem Herrn. Freut euch, dass ihr Hoffnung habt. Bleibt standhaft, wenn ihr leiden müsst. Hört nicht auf zu beten.“
(Brief an die Römer 12,11-12 -- www.basisibel.de)

Wieder bleibe ich hängen. „Hört nicht auf zu beten.“
Und wieder fühle ich mich ertappt. Wie schwer ist doch das Beten. Wie leicht ist es doch, es zu vergessen. Da ist so vieles zu tun und zu bewältigen. Da bleibt fürs Beten kein Raum. Viel zu selten nehme ich mir die Zeit.
Und ich erinnere mich: An die kostbaren Augenblicke, in denen das Gebet eine Tür in den Himmel öffnete. Das gemeinsame Vaterunser nach einem langen Gespräch. Die Stille mit einer Gruppe sonst lärmender Jugendlicher. Das Zwiegespräch, als ich ganz aufgeweicht war.
Und ja: War das nicht ein Wunder? Ein Augenblick, in dem der Alltag auf einmal Wurzeln schlug im Himmel? In dem Gott die leeren Hände füllte, die sich ihm entgegen streckten?

„Das mit dem Wunder, das lernst du schon noch.“

Und noch einmal Paulus:
„Helft den Heiligen, wenn sie in Not sind. Macht euch die Gastfreundschaft zur Aufgabe. Segnet auch die Menschen, die euch verfolgen.“
(Brief an die Römer 12,13-14a -- www.basisibel.de)

Noch einmal bleibe ich hängen: „Segnet auch die Menschen, die euch verfolgen.“
Noch einmal fühle ich mich ertappt. Wie schnell bin ich doch kampfbereit, wenn sich mir jemand entgegen stellt. Auf Schlag folgt Gegenschlag. Der andere hat es ja so gewollt. Aber warum will ich es dann so, wie der andere es will?
Und ich erinnere mich: Wie ich wieder einmal in Kampfesstellung war. Wie sich der Magen verkrampfte und ich die Worte zur Faust ballte. Und ich öffnete den Mund – und heraus kam ein leichtes Wort. Und der andere stutzte, dann entspannte er sich und er fing an zu lachen und ich fing an zu lachen und wir gaben uns die Hand.
Und ja: War das nicht ein Wunder? Ein Augenblick, in dem wir Hoch-Zeit feierten? In dem uns das Lachen und die Freude und das Fest des Lebens verband?

„Das mit dem Wunder, das lernst du schon noch.“

Das Mädchen wird sicher in ein, zwei Jahren das Schreiben gelernt haben. Und es wird auch lernen, Geduld zu haben.
Ob wir das mit dem Wunder genau so selbstverständlich lernen?
Vielleicht ist das das Wunder: Dass wir es lernen können, dafür aufmerksam zu sein. Dass wir lernen können, ihm den Weg zu bereiten, indem wir das Unsere tun und auf das hoffen, was nur Gott tun kann.
Vielleicht ist das das Wunder: Die Fülle, die sich im Alltag versteckt. Zwei Menschen, die sich verbinden. Gott, der plötzlich hinzutritt und mit feiert.

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