Neuanfang am Jordan

Der Mann war ein Ereignis. Ein Aussteiger, den man gesehen haben musste. Allein schon wie er lebte: Außerhalb der Stadt mit ihrem geregelten Alltag. Fern der ach so guten Sitten. Gegen alle Gewohnheiten.
Er war anders als die feinen Priester, die in ihrem Tempel feierlich und geheimnisvoll die Opfer vollzogen. Und er war auch ganz anders als die bedächtigen Schriftgelehrten, die jedes Wort des Gesetzes zerkauten.
Johannes, so hieß der Mann, war einer, der deutliche Worte sprach: „Seht auf euer Leben. Seht auf das, was ihr tut und sagt. Und seid ehrlich zu euch. Dann werdet ihr erkennen: Ihr lebt für euch und nach eurem Willen und hofft, so euer Glück zu finden. Aber ihr irrt euch. Schaut euch mit den Augen Gottes an. Fragt nach dem, was er von euch will. Ändert euer Leben. Richtet es auf Gott aus. Nur dann werdet ihr selig.“
Er sprach deutliche Worte. Zu jedem, egal ob es nun eine bodenständige Bäuerin oder eine Dame aus dem Königshaus, ein übernächtigter Hirte oder ein mächtiger Gesetzeslehrer war. Und jeden, der ihn ernsthaft darum bat, taufte er. Er tauchte ihn im Jordan unter. Ein Zeichen, das deutlich machte: Das alte Leben war abgewaschen und ein neues Leben begann.
Einen aber, den wollte er nicht taufen, als der vor ihm im Jordan stand. Er erkannte Jesus, ohne ihn zu kennen. Er wusste sofort, dass er es war. Er spürte die besondere Segenskraft, die von ihm ausging. Er spürte die Nähe Gottes. Welche Wahrheit über sein Leben und über Gott sollte er ihm aufdecken, welchen Neuanfang für seinen Lebensweg mit Gott sollte er ihm eröffnen? Nein, umgekehrt musste es sein: Jesus hatte ihm etwas für sein Leben zu schenken, hatte ihm etwas über Gott zu sagen.
Aber Jesus lehnte den Rollentausch ab. Er beharrte darauf: „Zögere nicht, mich zu taufen! Das ist es, was wir jetzt tun müssen. So eröffnen wir den Weg, auf dem der Wille Gottes ohne Abstriche erfüllt wird.“ Und Johannes gab nach und taufte Jesus. Er tauchte ihn im Jordan unter, hielt ihn einen kurzen Augenblick unter Wasser, dann nahm er die Hände von seinen Schultern. Jesus richtete sich wieder auf, strich sich das Wasser aus dem Gesicht und trat ans Ufer.
Was dann geschah, wurde später so oft erzählt, dass alle, die dabei standen, irgendwann meinten, es miterlebt zu haben: Einen ewigen Moment steht die Zeit still, die Grenzen der Welt öffnen sich für Gott. Jesus steht mit beiden Beinen in dieser Welt, in dieser Zeit. Zugleich schwebt er in Gottes Welt, umgibt ihn seine Ewigkeit. „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Jesus gehört zu Gott, Jesus gehört in die Welt. Schon schließen sich die Grenzen der Welt wieder, schon läuft die Zeit unbeirrt weiter.
Doch etwas Neues hatte begonnen, dort am Ufer des Jordan, das wir jetzt verlassen – voller Eindrücke und auch Fragen angesichts des Geschehens dort, wie das Matthäusevangelium (3,13-17) es erzählt.

Ich finde es erstaunlich, dass Jesus sich auf den Weg an den Jordan macht, um sich wie so viele andere von Johannes taufen zu lassen. Wie sie muss er von Johannes gehört haben, wie sie muss ihn der Mann der klaren Botschaft und der klaren Handlung angezogen haben.
Jesus hat Johannes Sicht auf die Menschen geteilt: Sie selber wähnen sich auf dem richtigen Weg ins Glück. Sie meinen ihn mit eigenen und sicheren Schritten bis an sein Ziel gehen zu können. Dabei befinden sie sich in einer Sackgasse, an deren Ende sie fern von Gott und noch ferner von ihrem Glück stehen. Und wer sich in einer Sackgasse befindet, kann nur eines, wenn er weitergehen will: Er muss umkehren, um einen neuen Weg zu finden. Das war Johannes Botschaft, das war Jesu Botschaft: Tut Buße! Kehrt um!
Aber Jesus teilte nicht nur diese Botschaft, er bezog sie auch auf sich: Er hielt es für sich selber für nötig, Buße zu tun. Er ging zu Johannes, um sich dessen Wahrheit über sein eigenes Leben sagen zu lassen: Du musst umkehren. Und er ging zu Johannes, um sich die Taufe schenken zu lassen. Um untergetaucht zu werden, damit der gottferne Mensch in ihm abgewaschen und ertränkt wird. Um als neuer Mensch, der aus Gottes Nähe lebt, wieder aufzutauchen. Und um dann neue Wege einzuschlagen.
Johannes staunt darüber – und ich mit ihm. „Er, der von keiner Sünde wusste“ – so schreibt Paulus über Jesus. So wird Johannes Jesus gesehen haben. Und so sehen wir ihn: ohne Sünde. Der einzige, der einen geraden Weg geht, ohne sich in Sackgassen zu verirren. Der einzige, der in seinem Leben nicht seiner eigenen Kompassnadel folgt, sondern sich ganz auf Gott ausrichtet. Aus welcher Sackgasse müsste er zurückfinden? Auf welchem Weg müsste er umkehren? Wo müsste ihm ein Neuanfang geschenkt werden?
Johannes sieht es so, wir glauben es so: Jesus ist es, der selber den Neuanfang schenkt, der Menschen anstößt, umzukehren, der Wege aus der Sackgasse zeigt. Und doch beharrt Jesus darauf: Ich muss getauft werden.

Was dann geschieht, was dann erzählt wird, bestätigt das: „Und siehe, da tat sich der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: ‚Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.’“
Was Jesus da geschieht, sieht aus wie die Bestätigung der Meinung, die Johannes hat, die wir teilen: Jesus ist der, der ohne Sünde ist. Er befindet sich auf dem geraden Weg, der für uns doch so krumm und schmal ist. Er ist vollkommen. Und deswegen ist er Gottes Sohn. Deswegen füllt ihn Gottes Geist aus.
Wie aber, wenn auch Jesus in der Taufe etwas Neues geschieht? Der Himmel öffnet sich, der Geist kommt über ihn, Gott nennt ihn seinen lieben Sohn – weil er sich von Johannes taufen lässt. Weil er den Weg geht, den auch die Menschen gehen, die zu Johannes kommen. Er nimmt ihren Weg auf sich: Den Irrweg, den Weg in die Sackgasse. Und er lässt sich auf diesem Weg anhalten. Er lässt sich zum Umkehren bewegen. Er sucht nach dem neuen Anfang. Und er bekommt ihn in der Taufe geschenkt.
Jesus ist Gottes Sohn, weil er sich auf den Weg der Menschen begibt. Weil er sich wie sie verirrt. Weil er wie sie in die Sackgasse gerät. Weil er wie sie den Drang spürt, umzukehren. Weil er sich wie sie den neuen Anfang in der Taufe schenken lässt – von Gott.
So können wir die Geschichte von der Taufe Jesu hören. Als eine Geschichte, die am Anfang seines Weges steht. Und als eine Geschichte, die davon erzählt, wie an genau diesem Anfang Gottes Gnade steht: Das Geschenk der Nähe Gottes, das Jesus in der Taufe in die Hände gelegt bekommt und das er dann aus vollen Händen weiter verschenkt.

Am Ende seines Weges fordert er seine Jünger dann auf, das Geschenk an seiner Stelle weiter zu verschenken: Geht hin und tauft! Und so taufen auch wir, so werden auch wir getauft. Nicht weil Jesus getauft hat. Sondern wie Jesus getauft wurde.
Die Geschichte von Jesu Taufe ist deshalb auch unsere Geschichte. Sie erzählt von der äußeren Taufe, mehr aber noch von der inneren Taufe, derer wir immer wieder bedürfen.
Die Geschichte von Jesu Taufe lädt uns ein, an den Jordan zu gehen. Vielleicht verlangt uns danach, einmal einen klaren Blick auf uns, auf unser Leben zu werfen. Wir tragen dann unser eigenes Bild, das wir von uns selber malen, mit an den Jordan. Der eine malt es in den hellsten Farben und freut sich an dem, was er da von sich sieht. Die andere malt grau in grau und ist womöglich stolz darauf, dass sie so farblos ist. Der dritte sieht schwarz und pinselt alle Hoffnung zu.
Am Jordan dann hören wir die klaren Worte, die uns sagen: Ihr sollt euch kein Bildnis machen von euch selbst und es anbeten, ob es nun bunt oder grau oder schwarz ist. Ihr sollt euch wie mit den Augen Gottes ansehen.
Dann entdeckt der eine womöglich, dass seine hellen Farben manches übertünchen, das Angst oder Hass doch eigentlich dunkel färben. Die andere sieht auf einmal die Umrisse und Schattierungen in ihrem Bild, das sie – mit allem Anziehenden und allem Abstoßenden – unverwechselbar macht. Und der dritte kratzt die schwarze Farbe von der Oberfläche und freut sich an den Strahlen der Hoffnung.
Und plötzlich tut sich uns am Jordan der Himmel auf und taucht uns in sein Licht. Und wir sehen uns tatsächlich mit Gottes Augen. Wir sehen, wie er uns so ansieht, wie er Jesus am Jordan angesehen hat: „Du bist ein Kind Gottes.“
Und wir lernen, ein ganz neues Bild von uns zu malen. Mit dem Schwarz, mit dem wir die Hoffnung in unserem Leben und in dem anderer Menschen verdunkeln. Mit dem Grau, in das wir in unserem Alltag manchmal zu versinken drohen. Mit den bunten Farben, die unser Leben zur Freude machen. Denn wir wissen, wissen wieder, dass Gott uns gnädig anschaut.

Und der Friede Gottes, der weiter ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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