Eine Wolke aus Licht

Die Bäume des Wäldchens ziehen vorbei. Rechts öffnet sich der Blick auf die Ostsee. Draußen auf dem Wasser liegen Containerschiffe. Er fährt am Leuchtturm vorbei. Von der Aussichtsplattform winken zwei Kinder dem Motorradfahrer zu.
Auf dem großen Parkplatz stellt er die Maschine ab. Er folgt dem Fußweg durch die Dünen, vorbei an den Betonbunkern, die seit 70 Jahren Meer und Sand trotzen.
Am Strand läuft er sich die lange Fahrt aus den Beinen. Weich gibt der tiefe Sand unter den schweren Schuhen nach. Jeder Schritt bringt ihn wie mit Sieben-Meilen-Stiefeln fort vom Alltag.
Er bleibt stehen. Weiter geht es nicht. Hier verschwindet das Land zwischen den Meeren. Die Wellen von Ost- und Nordsee laufen aufeinander zu, werfen Gischt auf und laufen wieder voneinander weg.
Er setzt sich auf der Landzunge, die in einem Bogen zwischen den Meeren verläuft, in den Sand. Die Finger spielen mit den kleinen Steinen und Muscheln. Sein Blick versucht vergeblich die Wellen bei ihrem Spiel einzufangen.

Weit weg von diesem Ort und unserer Zeit stiegen einst vier Männer über wüstes Geröll einen Hang hinauf:

„Jesus nahm Petrus und Jakobus und dessen Bruder Johannes mit sich. Er führte sie auf einen hohen Berg, wo sie ganz für sich waren.“
(Matthäusevangelium 17,1 -- www.basisbibel.de)

Jesus tat das immer wieder. Er zog sich zurück aus dem Alltag und seinen unsteten Wanderungen. Er entzog sich den drängenden Menschen. Er suchte die Stille und in ihr Gott.
Petrus und Jakobus und Johannes setzten schweigend einen Fuß vor den anderen. Fragen hatten sie viele und wussten: Sie bekämen keine Antworten von Jesus. Jetzt war nicht Menschenzeit. Jetzt war Gotteszeit.
Auf dem Gipfel des hohen Berges ließen sie sich auf Felsblöcken nieder. Johannes nahm ein Fladen Brot aus seinem Beutel. Er brach es in vier Teile, behielt eines für sich und reichte die anderen weiter. Petrus entkorkte einen Lederschlauch, den er über der Schulter getragen hatte, und trank einen Schluck Wasser. Er setzte ihn ab und reichte ihn Jakobus weiter. Auch die beiden anderen tranken.
Sie schwiegen und schauten auf die trockenen Sträucher, folgten mit den Augen einer Eidechse, die in einer Ritze verschwand.

„Da veränderte sich das Aussehen von Jesus vor ihren Augen: Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden strahlend weiß wie Licht. Und sieh doch: Da erschienen vor ihnen Mose und Elija. Die redeten mit Jesus.“
(Matthäusevangelium 17,2f. -- www.basisbibel.de)

Was sie da sahen, konnte nicht wirklich sein. Es musste eine Luftspiegelung in der Hitze sein oder ein Hirngespinst nach dem anstrengenden Aufstieg. So unwirklich es schein, so greifbar standen die drei Männer ihnen.
Mose war da, der eine Mann, der einst Gott gesehen hatte. Auf dem Gipfel eines Berges musste er sich in einer Felsspalte verstecken, während Gottes Herrlichkeit vorüberging. Er durfte ihm nachschauen. Als Mose vom Berg herabstieg leuchtete sein Gesicht.
Elija war da, der andere Mann, der einst Gott gesehen hatte. In einer Höhle musste er sich verstecken. Es zogen ein Orkan und ein Erdbeben und ein Feuer vorbei. In ihnen war nicht Gott. Er kam in einem stillen, sanften Sausen.
Jesus war da, der dritte Mann, der Gott gesehen hatte. Als Johannes ihn im Jordan getauft hatte, da stieg er aus dem Wasser und der Himmel riss über ihm auf und er sah den Geist Gottes, der wie eine Taube auf ihn herab kam.
Die drei Männer waren unwirklich, aber greifbar zusammen auf dem hohen Berg. Und Petrus und Jakobus und Johannes waren bei ihnen. Könnten sie doch bloß diesen Augenblick festhalten.

„Da sagte Petrus zu Jesus: 'Herr, es ist gut, dass wir bei euch sind. Wenn du willst, werde ich drei Zelte aufschlagen: eins für dich, eins für Mose und eins für Elija.' Während Petrus redete, sieh doch: Da legte sich eine Wolke aus Licht über sie. Und sieh doch: Eine Stimme erklang aus der Wolke: 'Das ist mein Sohn, ihn habe ich lieb. An ihm habe ich Freude. Hört auf ihn!'“
(Matthäusevangelium 17,4f. -- www.basisbibel.de)

Weit entfernt von jenem Ort und zu unserer Zeit sitzt ein Mann auf der Landzunge im Sand und sieht auf die Wellen, die aufeinander zu und voneinander weg laufen.
Der Mann stößt sich mit den Händen ab und steht mit einem Ruck auf. Er zieht die Schuhe und die Socken und die Motorradhose aus.
Das Wasser ist kalt. Es brennt auf der Haut. Die Füße werden rot. Der Mann geht weiter, bis die Wellen gegen die Oberschenkel schlagen.
Die Strömung der beiden Meere zieht an ihm. „Baden verboten! Lebensgefahr!“ warnen die Schilder am Strand. Der Fetzen einer Melodie und eine Verszeile schießen ihm in den Kopf: „Can I still get into heaven if I kill myself?“
Zwei Wellen laufen bei ihm gegeneinander. Gischttropfen spritzen ihm bis ins Gesicht.
Und sieh doch: Ein Sonnenstrahl trifft ihn aus einer Wolke aus Licht mitten ins Herz. Das Meer unter ihm verstummt. Die Kälte hört auf zu beißen. Wärme breitet sich aus.
Die Wogen in dem Mann glätten sich. Er sieht die Weite, die sich bis zum Horizont erstreckt. Er weiß es wieder: Sein Leben ist geborgen.

Weit weg von diesem Ort und unserer Zeit stand eine Wolke aus Licht über dem Berggipfel. Die Stimme war verklungen. Ihre Worte lagen noch in der flirrenden Luft: „Das ist mein lieber Sohn!“

„Als die drei Jünger das hörten, warfen sie sich nieder und fürchteten sich sehr. Jesus ging zu ihnen und berührte sie. Er sagte: 'Steht auf. Habt keine Angst!' Als sie aufsahen, konnten sie niemanden mehr erblicken. Nur Jesus war noch da.“
(Matthäusevangelium 17,6-8 -- www.basisbibel.de)

Petrus und Johannes und Jakobus standen auf und klopften sich den Staub ab. Alles Unwirkliche hatte sich verloren. Mit ihm schien auch das Wahre zu schwinden: War da etwas gewesen?
Doch, da war etwas gewesen. Es hatte seine Spuren hinterlassen. Sie konnten es an Jesu Gesicht ablesen. Von innen strahlte es. Glück stand dort geschrieben und Lebensfreude und Ernst.
Jesus drängte sie zum Aufbruch. Er nahm seinen Stock und ging los, ohne sich nach ihnen oder dem Berg umzuschauen. Er ging aufrecht wie einer, der wusste, dass er einen schweren Weg antrat, dem er nicht ausweichen konnte.
Die drei Jünger eilten ihm nach. Die Gotteszeit war vorbei, es herrschte wieder Menschenzeit.
Fragen brannten ihnen auf der Seele, die sie Jesus stellen wollten und die er beantworten müsste. Auf der Zunge schmeckten sie die Worte, mit denen sie die ganze Geschichte den anderen erzählen würden.

„Während sie vom Berg herabstiegen, schärfte Jesus ihnen ein: 'Redet mit keinem über das, was ihr gesehen habt – bis der Menschensohn von den Toten auferweckt worden ist.'“
(Matthäusevangelium 17,9 -- www.basisbibel.de)

Den Rest des Weges schwieg Jesus. So oft Petrus auch Luft holte: Er behielt seine Fragen für sich. Er würde keine Antwort bekommen.
Er musste auch seine Geschichte vorerst für sich behalten: Den großen Schatz, der sich seinem Herz auf dem Berggipfel eingeprägt hatte. Wie würde der erst leuchten, wenn er ihn vor allen ausbreiten dürfte.

Weit entfernt von jenem Ort und zu unserer Zeit steigt der Mann auf sein Motorrad. Er wirft einen Blick auf die Bunker, hinter denen er einen Zipfel der Landzunge und das Spiel der Wellen und den nahen Horizont sieht.
Er startet die Maschine. Er wird zurückfahren zu denen, die ihn vermissen. Es gibt keinen anderen Weg. Doch der diesen Weg geht, ist ein anderer geworden durch den Strahl, der ihn traf.
Das weiß er. Leichter steht er im Leben. Gewisser auf dem Boden, der ihn trägt. So steigt er auf das Motorrad. So will er absteigen, wenn er zurück ist.
Ob die, zu denen er zurückkehrt, ihn einen anderen sein lassen? Wird er mit ihnen sein Geheimnis teilen können? Wie sollen sie verstehen, was sie nicht selber erlebt haben und wofür er keine Worte hat?
Er zieht den Reißverschluss der Motorradjacke fest zu und klopft sich mit beiden Händen an die Brust. Als wolle er sicher gehen, dass er auch nichts vergessen hat.
Es ist alles da: Tief in seinem Herzen ruht das Geheimnis um den Strahl, der ihn traf. Warm fühlt es sich dort an. Er lächelt und legt den ersten Gang ein und gibt leise Gas.

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