Und reichst du uns den Kelch...

Der Garten Getsemani – hier beginnt Jesus, einsam zu sein. Im Stich gelassen von den Jüngern. Von Gott verlassen. Er schaut in den Abgrund, der sich am Ende des Weges auftut. Todesangst überfällt ihn. Wer wird ihn halten oder auffangen?
Die Jünger vielleicht. Die Freunde könnten ihm Halt geben. Aber sie fliehen in den Schlaf. Sie können nicht bei Jesus bleiben und wachen und beten. Sie können nicht ertragen, was er aushalten muss. Sie lassen ihn im Stich.
Oder Gott? Der Vater? Er könnte ihn auffangen. Aber Gott schweigt. Keine Antwort. Nur der Abgrund, der sich auftut. Jesus steht und kniet und liegt dort am Ende des Weges – von Gott verlassen.
Und Jesus gibt auf. Er gibt sich und sein Leben auf. Er liefert sich aus an die Menschen, die voller Schuld sind. Sie sind schon zu sehen, mit Judas an der Spitze. Jesus nimmt den Becher, den Gott ihm stumm reicht. Er ist bereit, ihn bis zur Neige zu trinken.

„Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern / des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, / so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern / aus deiner guten und geliebten Hand.“

So könnte Jesus beten. Es ist Dietrich Bonhoeffer, der diese Worte dichtet - im Dezember 1944, im Nazi-Gefängnis. Am Ende seines Weges, vor dem Abgrund, abgeschnitten von den Menschen, die er liebt, weggesperrt an einen gottlosen Ort. Vor fast 70 Jahren, am 9. April 1945, wird er wegen Hochverrats hingerichtet.
Auch er, Dietrich Bonhoeffer, gibt sich auf. Er gibt sich in die Hand von Menschen, die schwere Schuld auf sich laden. Er sieht den Becher, den Gott ihm reicht. Mit ruhiger Hand will er ihn entgegen nehmen.
Wie kann er so dichten und vertrauen? Der Versuch einer Antwort: Womöglich verwandelt sich für ihn der Kelch des Leids in den Kelch des Heils.

Als Jesus beim letzten Mahl mit seinen Jüngern zusammensaß, da nahm er den Kelch nach dem Mahl und dankte und gab ihnen den und sprach: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.“
Die Jünger nahmen den Kelch. Und viele Male danach noch reichten sie ihn weiter – untereinander und an all die, die dazukamen, die bis heute Abend hier an diesem Tisch folgten.
Jedes Mal taten sie es zu seinem – Jesu – Gedächtnis. Der Kelch wurde ihnen zum Kelch des Leids: Sie erinnerten sich an das, was mit Jesus geschah am Ende seines Weges. Sie sahen seine Todesangst im Garten Getsemani und den Schauprozess und die Verurteilung und die Hinrichtung und den qualvollen Tod. Sie sahen die eigene Schuld und das eigene Versagen und die eigene Flucht.
Aber immer, wenn sie den Kelch untereinander weiterreichten, wurde er ihnen auch zum Kelch des Heils: Sie erinnerten sich an das leere Grab und die beiden Freunde, mit denen Jesus in Emmaus das Brot teilte, und wie der Auferstandene sie zu allen Menschen schickte und ihnen versprach: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Jedes Mal, wenn sie den Kelch einander weiterreichten, wussten sie: Jesus ist jetzt bei ihnen. Er teilt das Leid, das sie tragen. Und sie werden das Heil teilen, das Gott ihm schenkte.

Darauf, so stelle ich es mir vor, will Dietrich Bonhoeffer vertrauen: Gott wandelt den Kelch des Leids, den er ihm reicht, in den Kelch des Heils. So wie Jesus es erfahren hat: Aus dem bitteren Essig am Kreuz wird der vollmundige Wein im Reich Gottes.
Ob Sie so vertrauen müssen? Ob ich es kann? Wenn es hart auf hart kommt und der Kelch des Leids vor dir oder Ihnen oder mir steht?
Noch einmal Dietrich Bonhoeffer: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“
Um diesen Glauben zu stärken – dazu teilen wir miteinander das Brot und reichen wir einander den Kelch weiter - den Kelch des Heils.

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