Wir sehen, wie Jesus am Kreuz hängt

I. Wir haben gesehen, wie Jesus das Kreuz aufgeladen wird. Er weiß, dass so das Ende seines Weges von Gott zu den Menschen aussehen muss. Also nimmt er das Kreuz auf sich. Als sei es sein Wille, sich unter die Last zu beugen. Als sei er es selber, der sich das Kreuz auflädt.
Er trägt es hinaus, vor die Stadt. Er verlässt die Stadt, in die Menschen kommen, um Gott nah zu sein. Vor kurzem hat sie ihn noch freundlich aufgenommen. Eben noch haben ihm die Menschen zugejubelt: „Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel.“ Jetzt wird er aus der Stadt vertrieben, jetzt wird er weggejagt, in den Tod.
Er schleppt sich und das Kreuz hinaus zur Schädelstätte, nach Golgatha. An den Ort, an dem Verbrecher mit dem Tod dafür bestraft werden, dass sie Gottes Gebote und Gesetze der Menschen übertreten haben. An diesem Ort schlagen sie Jesus an sein Kreuz. Gleichzeitig mit zwei anderen, zwei Verbrechern, wie er einer sein soll.

II. Wir haben gesehen, was als Aufschrift am Kreuz steht. „Jesus von Nazareth, König der Juden.“ Alle Menschen, die vorbeikommen, können es lesen und verstehen. Denn es steht dort in den Sprachen, die sie sprechen: In der Sprache des Volkes und den beiden Weltsprachen
Wer es mit glaubendem Herzen liest, dem stockt der Atem: Da hängt der König, der wahre Herrscher, der von Gott kommt.
Da hängt der, der von Gott Heil und Leben bringt. Warum hängt der da? Warum schlagen sie ihn ans Kreuz? Warum lehnen sie ihn ab? Warum wollen sie seinen Tod?
Pilatus ist fern davon, es zu verstehen. Er ist fern davon, den zu verstehen, den er da ans Kreuz schlagen ließ. „Ich bin ein König“, hat Jesus zu ihm gesagt, „mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Wie soll Pilatus das verstehen? Er ist Machtpolitiker: Macht hat, wer ein wirkliches Reich zu bestimmen hat. So wie er. Aber Jesus, das ist ein König ohne Land, den er nicht zu fürchten braucht.
Die Hohenpriester aber verstehen Jesus und seinen Anspruch, ihr König zu sein. Ein König, der mit Gottes Macht kommt und Gottes Reich aufrichtet. Sie verstehen seinen Anspruch – sie verstehen ihn als Gotteslästerung. Sie hören seine Worte, mit denen er ihnen sagt: „Ich bin es“. Aber sie können sie nicht annehmen. Sie sehen seine Zeichen, mit denen er ihnen zeigt: „Ich bin es.“ Aber sie können sie nicht erkennen. Für sie ist er es nicht. Er ist nicht ihr König, der Herrscher über Gottes Reich.
Aber Pilatus besteht darauf. Das Schild bleibt. Sein Schild, das aller Welt verkündet: Hier, am Kreuz, hängt der König über Gottes Reich. Aber wozu lässt er sich ans Kreuz schlagen? Wozu gibt er seine Macht aus den Händen? Wozu geht er in den Tod?

III. Wir haben gesehen, wie die vier Soldaten sich nach getaner Arbeit ihren Lohn sichern. Es ist ihr gutes Recht und schöner Brauch, dass ihnen gehört, was der getragen hat, den sie da ans Kreuz schlagen.
Es ist ein grausamer Brauch, es ist ein schreckliches Recht. Nackt hängt der Gekreuzigte über ihnen. Und sie verteilen untereinander, was sie ihm eben ausgezogen haben. Er ist nur noch ein Stück Fleisch. Den Menschen haben sie ihm ausgezogen. Sie haben ihn seiner Würde entkleidet und beraubt. Was an ihm einen Wert hat, das besitzen sie nun.
Für sie ist der am Kreuz nicht mehr als ein Stück Arbeit mit einem Stück Lohn. Wie die anderen Gekreuzigten vor ihm. Wie die beiden Gekreuzigten neben ihm. Wie die, die sie noch kreuzigen werden. Das Grauen ist ihr alltägliches Geschäft. Es ist so sehr Alltag, dass sie keinen Blick mehr darauf werfen.
Nur das Gewand lässt sie einen Moment stocken. In einem Stück ist es genäht, sie können es nicht aufteilen. So werfen sie das Los und das Gewand geht als Ganzes an einen neuen Besitzer. Als bliebe so noch ein letztes bisschen Würde erhalten. Eine letzte Erinnerung an den, der da gekreuzigt wird, und den einmaligen Menschen, der auch er gewesen ist.

IV. Wir haben gesehen, wie vier Frauen und ein Jünger unter dem Kreuz stehen. Sie haben mehr als eine Erinnerung an Jesus, der über ihnen am Kreuz hängt. Sie tragen ihn im Herzen.
Da ist Maria, seine Mutter, die ihn geboren hat. Sie weiß um ihn und das, was ihn ausmacht. Sie weiß, dass er die Fülle bringt, die nur Gott bringen kann. Damals, bei der Hochzeit in Kana, hat sie ihn aufgefordert, es zu zeigen.
Der Jünger, den Jesus lieb hat, der weiß auch um das Besondere an Jesus. Er ist mit ihm gegangen. Er hat ihn mit hörenden Ohren und sehenden Augen begleitet. „Ich bin es“, hat Jesus gesagt und gezeigt. Und er, der Jünger, hat gesehen und geglaubt: Jesus ist es, der Gott zu den Menschen bringt und die Menschen zu Gott.
Aber nun hängt er dort am Kreuz und wird er sterben. Er geht. Er lässt sie allein zurück. Was sollen sie dann allein, ohne ihn? Wie wird es weitergehen, wenn er jetzt geht? Wozu muss er sterben? Warum hängt er da?
Jesus tut das Letzte, was er für sie tun kann: Er bindet die Menschen, die ihm nah sind, aneinander. Sie sollen sich so nah sein, wie er ihnen nah gewesen ist.
Er will, dass sie füreinander weitertragen, was er ihnen entgegengebracht hat: „Lebt die Liebe, die ich für euch gelebt habe. In dieser Liebe bin ich bei euch. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Das trägt er ihnen auf, den Menschen, die ihm nah sind. Darin wird er weiterleben.

V. Das alles haben wir gesehen: Die Frauen und den Jünger, die Soldaten, die Hohenpriester und Pilatus, Jesus auf dem Kreuzweg. Und jetzt stehen wir hier. Das Kreuz Christi vor Augen.
Wir sehen die Qual, die er leidet. Der Körper ist zerschunden. Die Haut ist aufgerissen von den Schlägen, die auf ihn niedergingen. Die Schulter ist wund von der Last des Kreuzes, das auf ihm lag. Das Gesicht ist blutverschmiert von den kleinen Wunden, die der Dornenkranz eingeritzt hat. Die Hände sind gekrümmt, mit breiten Nägeln ans Holz geschlagen. Die Füße sind verdreht unter dem Gewicht, das sie halten müssen.

VI. Wir sehen, wie Jesus am Kreuz hängt. Und wir hören, wie er sagt: „Mich dürstet.“ Essig reichen ihm die Soldaten. Sauren Wein, der sonst ihren Durst stillt und jetzt seinen stillen soll. Und er nimmt ihn. Aber ob er seinen Durst stillt?
Sein Durst reicht tiefer, er kommt aus der Seele: Ihn dürstet nach dem lebendigen Wasser. Nach dem Wasser, das den Durst nach Leben stillt. Er verzehrt sich nach dem Wasser, das er selbst der Frau anbot, die er am Brunnen in Samarien traf: Das Wasser, das in das ewige Leben quillt.
Aber niemand kann ihm dieses Wasser reichen. Er trocknet aus, er verdurstet an der Seele, dort oben am Kreuz. Die Quelle des lebendigen Wasser versiegt. Er kann seinen Durst nicht löschen, so wie Menschen immer wieder durstig bleiben – durstig nach Heil und Sinn, nach Liebe und Geborgenheit.
Dazu hängt er am Kreuz: Um wie Menschen diesen Durst zu ertragen, der einen verzweifelt und ziellos umherirren lässt.
Dazu hängt er am Kreuz: Um für die Menschen diesen Durst auszuhalten. Und damit sie ihren eigenen Durst erkennen. Den Durst, den er stillen kann – aus der Quelle des lebendigen Wassers.

VII. Wir sehen, wie Jesus am Kreuz hängt. Und wir hören, wie er sagt: „Es ist vollbracht.“ Er spürt mit dem Tod das Ende der Schmerzen kommen. Er kann mit seinem Sorgen aufhören. Er kann loslassen. Es gibt nichts mehr zu tun.
Denn es ist alles getan. Der Weg ist gegangen. Er hat Gott in die Welt gebracht. Er hat Menschen spüren lassen, dass von ihm die Fülle des Lebens ausgeht, die nur Gott geben kann. Er hat ihnen gezeigt, dass in ihm Gott Hunger und Durst stillt, dass er Menschen heil und ganz macht, ja, dass er sie zum Leben erweckt. Er hat ihnen gesagt, dass er das Brot des Lebens ist, das Licht der Welt, der gute Hirte, der zu Gott führt. Wer Ohren hat zu hören und Augen zu sehen, der kann glauben. Wer die Herzen verschließt und die Seele betäubt, der lässt ihn am Kreuz sterben.

VIII. Denn dazu stirbt er am Kreuz: Weil die Menschen frei sind, sich zu entscheiden. Sie können wählen: Sie können Jesus in ihrem Herzen leben lassen und mit ihm die Gnade Gottes. Sie können sich ihm öffnen und spüren, wie er sie trägt, durch ihr Leben und darüber hinaus. Und sie können Jesus ans Kreuz schlagen. Sie können ihn aus ihrem Herzen vertreiben und Gott sterben lassen, dort am Kreuz.
Und so neigt Jesus sein Haupt und gibt seinen Geist hin, in die Hände Gottes. Denn es ist alles vollbracht. Was jetzt noch zu tun bleibt, wird Gott tun.
Auch das werden wir sehen. Am dritten Tag.

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