Alte Seele ganz neu

Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie alt Ihre Seele ist. Ich jedenfalls weiß es seit gestern.
Achso? Woher das?
Aus dem Internet. Bei Focus.de gibt es einen Test. Den habe ich gemacht.
Und? Was war das Ergebnis.
Na, rate mal.
Ich schätze mal: 45 Jahre.
Kalt. Ganz kalt.
Älter oder jünger?
Älter. Viel älter.
Nun sag schon.
Also: Meine Seele ist, sagt Focus.de, eine der ältesten überhaupt. 1.500 Jahre ist sie alt. Sie existiert seit dem römischen Reich.
Das würde ja manches an dir erklären. Und wie kommt Focus.de darauf?
Nun. Ich freue mich mehr über grüne Ampeln als über einen Aufzug, auf den ich nicht warten muss. Ich zerreiße lieber einen Pappdeckel, als dass ich Luftpolsterfolie zum Platzen bringe. Ich rieche lieber frisch gemähtes Gras als frisch gebackene Kekse. Zum Beispiel.
Und das macht deine Seele 1.500 Jahre alt?
Sagt Focus.de. Pass auf. Ich lese es dir vor: „Ihre Seele ist eine der ältesten überhaupt. Sie gab es schon zu der Zeit, in der das Römische Reich fiel und das Christentum aufstieg. Wenn Sie manchmal das Gefühl haben, dass es nichts Originelles mehr in der Welt gibt und Sie schon alles gesehen haben, will Ihnen ihre Seele wahrscheinlich mitteilen, dass es an der Zeit ist, etwas Neues auszuprobieren. Es ist schwer, sich mit so einer alten Seele frisch und zufrieden zu fühlen, aber Sie kriegen das hin!“
Was für ein... Ich würde sagen: Höchste Zeit, dass du neu geboren wirst.
Ich fürchte ja, dass Focus.de da widersprechen würde: Neu geboren werden geht nicht. Höchstens wieder geboren. Und weil meine Seele ständig wieder geboren wird, fühlt sie sich so gebraucht und alt an.
Sie kriegen das hin! Du musst nur von oben her neu geboren werden.
Was? »Wie kann denn ein Mensch geboren werden, der schon alt ist? Man kann doch nicht in den Mutterleib zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden!«
»Amen, amen, das sage ich dir: Was von Menschen geboren wird, ist ein Menschenkind. Was vom Geist geboren wird, ist ein Kind des Geistes. Wundere dich also nicht, dass ich dir gesagt habe: ›Ihr müsst von oben her neu geboren werden.‹«
Doch. Ich wundere mich. Schau dir mal die Diamantenen Konfirmanden an. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage dass Sie alle um und bei 75 Jahre alt sind.
Stimmt. Einer hat sogar gestern erst seinen Geburtstag gefeiert. Herzlichen Glückwunsch.
Das meine ich: Jeder hat seinen bestimmten Tag, an dem er in die Welt kam. Und den er feiert. Mal größer, mal kleiner.
Ja, aber keiner kam und kommt fertig in die Welt. Geboren werden dauert nicht nur von der ersten Wehe der Mutter bis zum ersten Schrei des Babys. Geboren werden dauert das ganze Leben.
Wie meinst du das?
Der Mensch, der du bist, wirst du im Lauf deines Lebens. Jeder Tag in deinem Leben ist wie eine kleine Geburt. Jeden Tag kommt etwas Neues an dir zur Welt.
Du sprichst von den neuen Falten, die du entdeckst, wenn du morgens in den Spiegel schaust.
Du bist so charmant. – Ich dachte eher an das Fotoalbum, in dem du blätterst. Von deiner Geburt bis heute.
Stimmt. Wenn ich mir die alten Bilder anschaue, dann erkenne ich mich wieder. Ich bin derselbe wie damals. Und doch wieder auch nicht. Was nicht nur an den Falten liegt. Manchmal finde ich das schade. Manchmal bin ich da froh drüber.
Wie mag das erst sein, wenn du Diamantene Konfirmation hast.
Das fragte ich mich auch gerade. Wie mag das für Sie sein, die Diamantenen Konfirmanden heute. Welche Bilder von der Konfirmation und der Zeit danach und davor steigen in Ihnen auf?
Sie gehören zur Kriegsgeneration. 1939, 1940, 1941 wurden Sie geboren. Viele von Ihnen hier auf Föhr, in unseren Dörfern. Andere trieb die Flucht vor dem Krieg als kleine Kinder hierher.
1954, 1955, 1956 – da wurden Sie hier konfirmiert. 1954 war das erste Jahr, als es an St. Johannis nur noch einen Pastor gab. Fritz Gottfriedsen war das.
Es war die Zeit, in der viele junge Leute nach New York zogen, weil dort das Abenteuer lockte und es hier wenig Arbeit gab. Manche von Ihnen waren dort. Einer ist es immer noch.
Die von Ihnen hier blieben, haben miterlebt, wie die Insel sich veränderte. Die Aussiedlungshöfe wurden gebaut und richtige Straßen. Die Urlauber kamen und bestimmten im Sommer das Familienleben.
Die hier blieben, konnten sich kaum aus den Augen verlieren. Entweder Sie treffen sich in den Clubs, denen Sie über Jahrzehnte treu sind – oder Sie sind ohnehin verwandt.
Das sind die Bilder, die wir vermuten. Sie selber haben Ihre eigenen inneren Bilder und dicken Fotoalben. Die zeigen, wie Sie die wurden, die Sie heute sind.
So vieles hat sich verändert, bis der Mensch herauskam, der Sie heute sind. Aber meist ist es ja so: Nicht wir verändern uns. Wir werden verändert. Es geschieht an uns und mit uns, ohne dass wir es mitbekommen oder gar begreifen.
Und was hat das jetzt damit zu tun, dass ich von oben her neu geboren werden soll oder muss?
Ich denke, das hat damit zu tun, wie ich auf die Bilder meines Lebens schaue und auf den Menschen, der ich war und der ich geworden bin.
Also eine Frage der Sichtweise.
Eher eine Frage der Lebensweise. Ich kann so leben, als wäre ich der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Ich mache mich zum Maß aller Dinge.
Also: Ich bin die Erde, um die sich die Sonne dreht?
Schönes Bild, genau.
Ich klopfe mir selber auf die Schulter für all das, was ich in meinem Leben erreicht habe. Mein Haus, mein Auto, mein Boot.
Und für das, was schwer war und gegen meinen Willen, mache ich die Sonne verantwortlich, weil sie nicht genug geschienen hat.
Was gut war, habe ich geleistet. Was schlecht war, haben andere verschuldet. Oder das Schicksal. Oder auch Gott.
Die andere Art, im Leben zu stehen, ist, dass ich mich von Gott abhängig weiß.
Also: Ich bin ein Planet, der um die Sonne kreist.
Ja. Ich bin dankbar für das, was aus mir geworden ist. Für das, was mein Leben reich macht.
Auch für das, was schwer ist in meinem Leben? Und für das, was mir missfällt, wenn ich in den Spiegel schaue?
Wohl dem, der das kann. Der auch im Schlechten, auch in dem, was ihm schwer ist, Gottes Segen erkennt. Ich kann es nicht. Nicht immer jedenfalls.
Vielleicht ist das im Rückblick leichter als im Augenblick selber. Im Nachhinein sehe ich womöglich, was im Schlechten gut war. Wo der Segen war in dem – auch im Unglück.
Auch beim Wind ist es so: Er weht, wo er will.
Was?
Es ist ein Geschenk, sein Leben so sehen zu können und so zu leben. Als ein Leben, das vom Segen Gottes durchweht ist. Manchmal laut und deutlich. Manchmal still und leise.
Aber das Schöne am Wind ist ja: Ich spüre ihn. Ich brauche nur den Finger anzufeuchten. So ist es mit dem Segen. Ich spüre ihn. Wenn ich nur ein wenig aufmerksam auf ihn bin.
Wie gut, dass es auf Föhr immer Wind gibt. Und dass es hier und heute einen Segen gibt. Vor sechzig Jahren wurden sie eingesegnet. Das heißt: in den Segen Gottes gestellt. Daran erinnern wir heute, wenn wir Sie nachher segnen.

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