Wir feiern den Traum, den wir im Herzen tragen

„Jeder trägt einen Traum im Herzen.“

Lukas zum Beispiel. Er träumt von einer Gemeinschaft, in der Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.
Es ist der Traum von einer anderen Welt. Von einer Welt, in der sich Menschen auf Augenhöhe begegnen.
Einmal wird es so sein. Eine Frau wird nicht auf ihr cremefarbenes Kostüm achten und eine andere umarmen, die nach ungeputzten Zähnen und feuchtem Schlafsack und kaltem Schweiß stinkt. Und sie werden sich gegenseitig geben, was die eine und die andere zum Leben braucht.
Einmal wird es so sein. Ein Mann wird eine Frau umarmen und dabei vergessen, dass er der Chef ist und sie die Sekretärin, und er wird nicht meinen, dass er mit ihr tun kann, was er will. Und sie werden sich unterhalten und sich verstehen, Mann und Frau, jeder und jede als ein Teil des Ganzen.
Einmal wird es so sein. Der Machtmensch wird sich aus Brüssel auf den Weg machen und in Melilla im Norden Afrikas ein Loch in den Zaun schneiden und den Jugendlichen bei der Hand nehmen, der sich nach einem Leben sehnt, dass mehr ist als der Kampf ums Leben. Und gemeinsam werden sie lernen, wie wertvoll das Leben ist. Jedes Leben.
Es ist ein uralter Traum, den Lukas träumt. Manchen macht dieser Traum Angst. Viele andere träumen ihn. Nacht für Nacht. Tag für Tag.

Karoline zum Beispiel träumt ihn. Sie ist ein Mädchen von elf Jahren. In ihrem bayrischen Heimatdort trägt sie Mitte der 50er Jahre die Blätter einer Missiongesellschaft aus. Sie selber ist die eifrigste Leserin.
Sie beschließt: Sie muss Missionarin werden. Sie will Jesus und die Liebe Gottes zu den Ärmsten der Armen bringen. Damit die Welt eine andere wird. Wenigstens ein klein wenig.
Sie muss warten mit ihrem Traum, heißt die Antwort von der Missionschule, an die sie schreibt. Erst mit vierzehn Jahren kann sie aufgenommen werden.
Sie wartet drei Jahre und geht dann an die Missionschule, eine Tagesreise von Zuhause entfernt. Sie macht dort das Abitur. Sie tritt ihrem Orden, den Steyler Missionsschwestern, bei. Sie ist 25 Jahre alt, als ihr Orden sie nach Santiago de Chile schickt.
Und immer noch trägt sie diesen Traum in sich: Den Ärmsten der Armen helfen.

Wir haben aber nicht den Geist dieser Welt empfangen, sondern den Geist, den Gott selbst uns schickt. Dadurch können wir erkennen, was Gott uns geschenkt hat.

(1. Korinther 2,12.)

Lukas trägt einen Traum im Herzen. Den Traum, dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Und er erzählt davon, wie er einmal wirklich geworden ist.
Er erzählt von dem Tag, als die Freunde von Jesus in ihrem stillen Kämmerlein saßen. Ihre Träume für ihr Leben waren ausgeträumt, als Jesus sie allein ließ. Erst ging er in den Tod, dann in den Himmel. Weit weg war er und sie allein mit sich und dem, was sie wehmütig erinnerten.
Lukas erzählt davon, wie plötzlich ein Windstoß die Fensterläden aufriss und Licht in den Raum strömte. Wie das Brausen die Männer und bestimmt auch die Frauen ergriff und sie auf die Straße wehte. Wie sie plötzlich wieder ihr Herz fühlten, das in ihnen brannte.
Sie spürten das Leben und die Liebe, mit denen Gott in sie hineinfuhr. Sein Geist floss durch sie hindurch und aus ihnen heraus. Er ergoss sich auf die Menschen, denen sie begegneten.
Die Meder und Parther, die Kreter und Araber. Die Frauen und Männer. Die Armen und Reichen. Die Schriftgelehrten und die Analphabeten. Die Gesetzesbrecher und die Pharisäer.
Lukas erzählt, wie sie alle die Freunde Jesu verstanden – und wie sie sich verstanden. Etwa Dreitausend schlossen sich an diesem Tag zusammen. Eine große Gemeinschaft wurden sie.
Eine Gemeinschaft, die sich reihum bei denen traf, die Häuser und Platz hatten. Die dort das Brot miteinander brachen und dabei spürten, wie der mit am Tisch saß, der zuerst mit seinen Freunden das Brot gebrochen hatte.
Keiner hielt an dem fest, was er hatte. Jeder bekam, was er brauchte. So wie Jesus nie an seiner Liebe festhielt und sie jedem schenkte, der sie brauchte.
So war das an Pfingsten, damals, als der Traum sich erfüllte, erzählt Lukas.

Wir haben aber nicht den Geist dieser Welt empfangen, sondern den Geist, den Gott selbst uns schickt. Dadurch können wir erkennen, was Gott uns geschenkt hat.
(1. Korinther 2,12.)

Schwester Karoline studiert in Chile Medizin. Ärztin darf sie nicht werden, aber Universitätskankenschwester.
Immer noch zieht es sie zu den Armen. Andere Studenten nehmen sie mit in ein Armenviertel. Die Siedlung ist illegal auf einem Müllhügel errichtet worden. Die Familien arbeiten im Müll, leben vom Müll, werden krank vom Müll.
Schwester Karoline spürt: Jetzt ist sie dort, wo sie hingehört.
Sie geht zur staatlichen Krankenstation in dem Armenviertel und beginnt, die Menschen kostenlos zu behandeln. Und die Menschen kommen zu ihr. Schnell spricht es sich herum, dass sie Wunden versorgt, Spritzen gibt, gegen Läuse und Krätze behandelt.
Sie geht mit den Frauen zu den Supermärkten. Sie sammeln alles, was bis zum Abend nicht verkauft ist: Obst, Gemüse, Fleisch. Die Frauen kochen jeden Tag eine warme Mahlzeit für 50 und mehr Kinder. Es entstehen Volksküchen.
Sie stößt zu einer „Basisgemeinde“. In einer windschiefen Hütte sitzen auf ein paar Kisten und Stühlen zehn, zwölf Menschen um einen Tisch, jeder hat ein kleines Evangelium in der Hand. Sie lesen eine Bibelstelle und lesen sie ein zweites Mal. Und dann denken sie darüber nach, was das mit ihnen, mit ihrem Leben zu tun hat.
Und manchmal weht ein Wind durch die Hütte und die Menschen gehen auf die Straße und erzählen anderen von dem, was sie erleben und glauben – und es geschieht, dass die, denen sie begegnen, sie verstehen.

„Ich träumte das Leben sei ein Traum und wachte auf davon und da war das Leben gar kein Traum und da schlief ich nie wieder ein“
(Günter Wallraff).

Lukas träumt seinen Traum von einer Welt, in der sich Gerechtigkeit und Frieden küssen. Und er erzählt von dem Tag, als dieser Traum sich erfüllt.
Er kann nicht ruhen und er kann nicht aufhören zu träumen und zu erzählen. Der Traum ist zu mächtig und die Welt so, dass sie diesen Traum braucht.
Lukas weiß das. Er weiß, dass die Welt kein Ort ist, an dem Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Er weiß auch, dass selbst die Pfingstgemeinschaft nicht dieser Ort ist.
Lukas erzählt Menschen von seinem Traum, die diesen Traum vielleicht träumen, aber nicht leben.
In seiner Gemeinde sind die Reichen reich und die Armen arm. Die Armen müssen sehen, wo sie bleiben. Und die Reichen genießen, was sie haben. Ein Graben tut sich auf.
Wenn er könnte, würde Lukas ihn zuschütten. Aber das können nur die Reichen und die Armen selber. Dazu muss er seinen Traum in ihr Schlafen und Wachen schicken. Damit es ihr Traum wird und sie aufwachen und anfangen diesen Traum zu leben.
Also wird er nicht müde, von seinem Traum zu erzählen und dem Geist, der ihn bewegt.

Auch Schwester Karoline wird nicht müde. Sie muss den Traum von einer Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden sich küssen, leben.
Auch jetzt noch, mit 72 Jahren. Sie ist der Motor einer Stiftung, der Fundación Cristo Vive. Zu ihr gehören unter anderem fünf Kindertagesstätten für insgesamt knapp 780 Kinder, die Obdachlosensiedlung Villa Mercedes am Rande von Santiago de Chile, die 174 Familien Platz bietet, 13 Volksküchen sowie ein Gesundheitszentrum, das 21.000 Menschen versorgt.
Sie muss den Traum leben. Und sie muss ihn in die Welt tragen. Zurzeit ist sie in Deutschland unterwegs. Am Anfang der Woche war sie in Breklum und Husum, wo ich ihr begegnete. Wer zum Kirchentag fährt, kann sie dort treffen.

„Jeder trägt einen Traum im Herzen“, sagt sie. Jeder trägt das in sich, was ihn siegen lässt über seine Verzagtheit, seine Ängste, seine Feigheit, seine Trägheit – kurz: über all seine kleinen und großen Ausreden.
Jeder trägt in sich, was ihn wachsen lässt – zu einem, der er in Wirklichkeit ist: Einer, der sich mutig dafür einsetzt, dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.

Heute ist Pfingsten. Wir feiern den Traum, den wir im Herzen tragen. Wir feiern den Geist, der ihn in unser Herz schickt – und der uns hinausschickt, aus diesem Haus, auf die Straßen.

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