"...damit mein Haus voll wird!"

Warum läuten bloß schon die Glocken? Er versucht auf seine Uhr zu schauen. Aber der Talar, den er über den Arm gelegt hat, versperrt ihm die Sicht. Er geht einen Schritt schneller. Es ist doch noch eine halbe Stunde Zeit, murmelt er.
Kurz darauf betritt er seine Kirche. Da stimmt etwas nicht, ist sein erster Gedanke. Stimmengewirr hört er und ein Klirren, wie von Gläsern. Er schnuppert. Wonach riecht das? Holunderblüten? Jedenfalls nicht nach Kirche.
Er macht noch die paar Schritte bis zum Mittelgang, dann erstarrt er. Menschen sitzen in der Vierung, rund um eine große Tafel aus Tischen. Er weiß nicht, wo er zuerst hinschauen soll.
Seine Augen laufen die Tische auf und ab. Weiße Tischdecken haben sie aufgelegt, bunte Sträuße stehen in Tonvasen, Bauernrosen und Holunder und diese gelben Blumen – wie heißen die noch mal? Karaffen mit Wasser, das Sonnenlicht bringt sie zum Funkeln. Körbe mit Brot haben sie verteilt.
Er sieht Hände, die nach Gläsern greifen. Menschen stoßen miteinander an. Er schaut auf die Gesichter. Es sind fremde Menschen. Was heißt fremde. Er kennt sie. Aber was machen die hier? In seiner Kirche?

Gleich da vorne, das ist doch der Mann, der im Sommer hier immer unterwegs ist. Mit den Taschen und den vielen Fahnen am Fahrrad. Braungebrannte Haut, wettergegerbt, wie es so schön heißt, ungewaschene Haare, verfilzter Bart.
Erst vorgestern hat er ihn gesehen. Er erinnert sich, wie erstaunt er war. Der Mann saß nämlich auf einer Bank und telefonierte. Mit einem Handy. Und als er eine halbe Stunde später noch einmal vorbeikam, saß der immer noch da und telefonierte. Jetzt ist er hier. In seiner Kirche.

Neben ihm – das ist doch diese Frau, mit der er vor zwei oder drei Jahren in der Weihnachtszeit zu tun hatte. Die wartete an einer Bushaltestelle, umgeben von ihren Taschen.
„Die will mit dem Pastor sprechen“, hatte ihn einer angerufen. „Sie müssen da was tun. Die braucht doch ein Dach über dem Kopf. Es ist doch kalt draußen.“
Also war er zu ihr hingefahren. In ein Heim wollte sie nicht. „Ich will bei Ihnen schlafen“, hatte sie ihm gesagt, „nur damit können Sie mir helfen.“ Aber das hatte er nicht gewollt. Wegen seiner Familie und überhaupt.
Zum Glück kam dann der Weihnachtsstress und er hatte die Frau bald aus seinem schlechten Gewissen verdrängt. Sie verschwand ohnehin, wohin auch immer. Nun ist sie also wieder da. In seiner Kirche.

„Da sind Sie ja, Herr Pastor!“ Er schrickt zusammen. Der Küster steht neben ihm, einen Stapel Stühle vor dem Bauch. „Wir haben schon auf Sie gewartet!“ „Ja. Aber was ist hier los?“ „Na, wir wollen doch Tischabendmahl feiern.“ „Ich weiß, aber all diese Leute…“ Er nickt zur Tafel hin. „Schön, oder?“, sagt der Küster.

Er schaut wieder zu den Menschen hinüber. Der Mann da vorne, mit Anzug, weißem Hemd, roter Krawatte. Woher kennt er den? War das nicht dieser Anwalt, irgendwo aus dem Westfälischen?
Er hat ihn getauft, vor ein paar Jahren. Ein Tauftourist wie andere auch, weil es an der Nordsee so schön ist. Und doch etwas anders.
Er traute sich nicht, sich zuhause taufen zu lassen. Was würden die Leute sagen? Wenn sie herausfänden, dass er noch gar nicht getauft war? Wo sie doch alle Sonntag für Sonntag in die Kirche gingen – oder zumindest so redeten, als würden sie es tun.
Um den heiligen Schein zu waren, hatte er schon seit Jahren Kirchensteuer bezahlt, ohne getauft zu sein. Er hat ihn Jahr für Jahr zum Tauferinnerungsgottesdienst eingeladen. Jetzt ist er wieder da. In seiner Kirche.

Daneben sitzt eines der Paare, das er getraut hatte. Sie kehren einander den Rücken zu. Er weiß, dass sie sich schon länger die kalte Schulter zeigen. Irgendwer hat es ihm erzählt.
Der Kinder wegen sind sie noch zusammen, heißt es. Aber innerlich gehe jeder schon längst seine eigenen Wege. Letztens hat man ihm zugetragen, dass der Mann inflagranti erwischt worden sei, wie er mit der Frau von…
Aber er will auf diesen Dorfklatsch ja nichts geben. Dennoch fragt er sich beständig, ob er nicht einmal bei den beiden vorbei gehen muss. Bislang fehlte ihm der richtige Anlass – und, wenn er ehrlich ist, auch der Mut. Aber nun sind die beiden ja hier, in seiner Kirche.

Eine Liedzeile springt ihm in den Kopf. „All the lonely people, where do they all come from?” Wie ging noch mal die Melodie? Es war ein Song der Beatles, oder?
„All the lonely people, where do they all come from? All the lonely people, where do they all belong?” Wo kommen sie bloß her, all diese einsamen Menschen? Und wo gehören sie hin? Hierher, in seine Kirche?
Er schaut über die Tafel hinweg auf den Altar. Da in der Ecke steht eine andere Figur als sonst. Nicht Johannes. Ein anderer Mann. Weites Gewand, Bart, lange Haare, die Arme ausgebreite. Er kennt diese Figur. In Kopenhagen hat er sie mal gesehen. In dieser Kirche neben der Uni.
Thorvaldsen hieß der Bildhauer, 19. Jahrundert. Zu schön, um nicht kitschig zu sein, die Statue. Und doch eindrucksvoll:
Kein Jesus am Kreuz. Ein Jesus, der steht und freundlich schaut und einlädt. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Matthäus 11,18. Oder 28? Egal.
Jedenfalls die Mühseligen und Beladenen. Und die anderen? Wie gern würde er sie auch einmal in seiner Kirche sehen, die Fröhlichen und die Befreiten.

„Hallo, Herr Pastor“. Ein Junge hat ihn entdeckt. Quatsch, ein junger Mann. Er war Konfirmand, damals, als er Vikar war. Er müsste jetzt wie alt sein? Mitte 20? Ein Student, womöglich. Oder wollte er zur Polizei gehen?
Er erinnert sich an ihn und seine Freundin. Anstrengend waren die beiden, aber auch ein tolles Gespann. Wenn ihnen langweilig war, schmissen sie die ganze Stunde. Aber wenn es sie packte, dann war es so, als würde der Geist wehen, wo er will.
Wie oft hat er sie seit der Konfirmation gesehen? Zweimal, dreimal? Jetzt jedenfalls ist er hier, in seiner Kirche.

Eine Frau in seinem Alter sitzt neben dem jungen Mann. Er hat sie immer mal gesehen, zuletzt beim Ringreiterball. Oder war es der Feuerwehrball?
Sie war Gemeindevertreterin gewesen. Und sie ist selbstständig, hat einen kleinen Schuhladen.
Ob Läden sonntags nun öffnen müssten oder nicht, darüber hatten sie gestritten, mit der Freundlichkeit gut erzogener Menschen.
Sie würde sich freuen, wenn sie am Sonntagvormittag mal ausschlafen und mit ihren Töchtern entspannt frühstücken könnte, sagte sie. Aber sie müsse in den Laden, wovon sollte sie sich sonst das Frühstück leisten?
Mit Kirche hat sie nichts zu tun, ihre Eltern haben sie nicht taufen lassen. Sie kam aus Mecklenburg hierher. „Sie wissen ja, wie das war zu DDR-Zeiten!“ Aber nun ist auch sie hier, in seiner Kirche.

Jetzt haben ihn die anderen Menschen an der großen Tafel entdeckt. Manche lächeln ihm zu, andere heben ihre Gläser, winken ihn an den Tisch.
Er geht zu ihnen, hängt seinen Talar über die vorderste Bankreihe und stellt seine Tasche ab. Er geht die Runde ab und reicht jedem die Hand, auch wenn das hier ja nur Zugezogene machen – aber das ist er ja.
Erleichtert stellt er fest, dass auch die da sind, die sonst immer kommen. Sie scheinen ebenfalls froh, dass er nun da ist. Gemeinsam müssen sie sich nicht so fremd fühlen in ihrer Kirche. Es wird werden wie immer, jedenfalls fast.

„Dann werde ich mir mal was anziehen“, sagt er, nimmt den Talar und die Tasche und geht in die Sakristei. Er packt sein schwarzes Mäppchen aus der Tasche, das Buch mit den Abkündigungen.
In seiner Bibel haben sich Seiten verknickt. Er schlägt sie auf, um sie zu richten. Abwesend liest er:

Bald darauf meldete der Diener: ›Herr, dein Befehl ist ausgeführt – aber es ist immer noch Platz.‹
Und der Herr sagte zu ihm: ›Geh hinaus aus der Stadt auf die Landstraßen und an die Zäune. Dränge die Leute dort herzukommen, damit mein Haus voll wird!‹

(Lukasevangelium 14,23 -- www.basisbibel.de)

Da klingelt es. Er sucht in der Tasche. Das Klingeln wird lauter.
Er macht die Augen auf. Es ist sein Wecker. Es ist Sonntag­morgen, halb sieben. Die Sonne scheint durch die Gardine. Zeit zum Aufstehen. Nachher ist Gottesdienst.

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