Aylan und der Regenbogen

Ein Bild ging um die Welt am Donnerstag und am Freitag. Das Bild eines kleinen Jungen in rotem T-Shirt und blauen Jeans. Aylan heißt der Junge, drei Jahre alt. Aus Kobane in Syrien stammt er. Von dort ist er geflohen, mit seinen Eltern, seinem Bruder. Auf dem Bild liegt er an einem türkischen Strand, das Gesicht im Sand. Tot ist er, ertrunken im Mittelmeer. Wie sein Bruder, wie seine Mutter, wie Tausende andere auch.
Das Bild ist eine Schande, heißt es. Den kleinen Jungen so zu zeigen, das raube ihm noch im Tod das letzte bisschen Menschenwürde, das ihm geblieben ist.
Welche Würde? Die wurde ihm schon lange vorher genommen. Von den Diktatoren und Terroristen, die seine Heimat mit Krieg und Terror überziehen. Von den Schleppern, die aus der Verzweiflung von Flüchtlingen Gewinn schlagen. Von den Politikern, die aus Europa eine Festung machen.
Nicht das Bild von Aylan ist eine Schande. Dass Aylan sterben musste, das ist die Schande.

Gott hat die Menschen erschaffen. Aber die Menschen machen Gott keine Freude. Sie streiten miteinander. Sie schlagen einander tot.
(aus: Der Regenbogen, in: Das große Bibel-Bilderbuch, Stuttgart 1998)

Das ist die Schande. Gott hat den Menschen das Leben geschenkt. Aber sie wissen damit nichts anzufangen, außer dass sie es sich gegenseitig streitig machen und einander aus der Hand reißen.
Eigentlich, so erzählt die Geschichte von der Sintflut, eigentlich gibt es nur eines, was Gott da tun kann: Er muss von den Menschen das Geschenk zurückfordern. Er muss zu den Menschen sagen: Ich nehme euch die Welt weg. Ihr habt das Leben nicht lieb wie ich – ihr zerstört es, wo ihr nur könnt.
Also schickt Gott den großen Regen, bis den Menschen das Wasser bis zum Hals steht und sie in den Fluten ertrinken. Das Leben nimmt ein schreckliches Ende.

Aber die Geschichte von der Sintflut ist auch und vor allem die Geschichte vom Regenbogen.
Das kann Gott nicht wollen, erzählt die Bibel. Gott kann doch nicht die Welt zerstören, die er gerade erst geschaffen hat und lieb hat. Die Sintflut, in der alles Leben ertrinkt, kann nicht das Ende von allem sein.
Denn dann hätten ja die Menschen gewonnen, die das Leben zerstören wollen. Und Gott, der das Leben schenkt, hätte ein- für allemal verloren. Der Hass der Menschen wäre der Sieger und Gottes Liebe wäre die Verliererin.
Gott sei Dank ist sie es nicht. Im Gegenteil. Gott liebt weiter. Er liebt das Leben, das er geschaffen hat.
Er hat Freude an Noah, der so lebt, wie Gott es will. Noah kümmert sich um die Menschen, die zu ihm gehören. Er achtet auf die Tiere, denen Gott ebenso das Leben geschenkt hat wie ihm, dem Menschen. Und Noah dankt Gott für das Geschenk Leben, das er von ihm hat.

Gott liebt das Leben, das er geschaffen hat. 

Er sagt: „Habt keine Angst! Es kommt keine Sintflut mehr. Seht den Regenbogen am Himmel! Nach dem Regen scheint wieder die Sonne. So soll es immer bleiben. Das verspreche ich euch.“
(aus: Der Regenbogen, in: Das große Bibel-Bilderbuch, Stuttgart 1998)

Er sagt das zu Noah, der so lebt, wie Gott es Freude macht. Und Gott sagt das, obwohl er sieht, dass längst nicht alle Menschen wie Noah sind.
Da ist so vieles an den Menschen, was Gott keine Freude bereitet. Gott, so stelle ich es mir vor, weint über Aylan, der sterben musste – wie Gott über all die anderen weint, denen das Leben genommen wird. Und Gott ist wütend auf die Menschen, die anderen das Leben schwer machen oder es ihnen sogar nehmen.
Aber Gott schickt deshalb keine Sintflut. Er setzt den Regenbogen dagegen. Es ist sein Zeichen und unser Zeichen, dass das Leben stärker ist. Das Geschenk, das Gott macht, ist zu groß. Kein Mensch kann es endgültig zerstören. Das kann nur Gott – aber er will es nicht.
Gott will das Leben bewahren. „So soll es immer bleiben. Das verspreche ich euch.“

Mir macht das Hoffnung. Es ist die einzige, die mir bleibt, wenn ich das Bild von Aylan sehe.
 

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