Acht Bilder - eine Kanzel
Martin Luther steht in Wittenberg auf der Kanzel und predigt mit ausgestreckter Hand. Ihm gegenüber sitzt und steht aufmerksam die Gemeinde:
Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, ein nackter Säugling
sogar auf dem Schoß seiner Mutter.
Zwischen
Luther und den Frauen und Männern steht das Kreuz, an dem Jesus
Christus hängt. Das Tuch, das ihm um die Lenden gewickelt ist,
scheint im Wind zu wehen. „Wir aber predigen den gekreuzigten
Jesus“ (1. Korinther 1,23).
Das
Bild zeigt eindrucksvoll die neue Bedeutung, die das Predigen mit
Luther und der Reformation gewinnt. "Solo verbo", allein durch das
Wort, so heißt es bei den Reformatoren. Die Menschen müssen die
Botschaft hören, dass Gott sich ihnen zuwendet. Jemand muss es ihnen
sagen. Woher sollen sie es sonst wissen?
Also
spielt die Predigt eine neue, zentrale Rolle im Gottesdienst. Die
Menschen sollen von Gott hören. Und der Ort, von dem aus ihnen von
ihm erzählt wird, ist die Kanzel.
So
bekommt 1618 auch unser Friesendom seine Kanzel – zu Gottes Ehre,
wie es über dem Aufgang steht.
Seit
400 Jahren ist sie der Ort, von dem in dieser Kirche gepredigt wird.
Aber so ganz scheinen die Stifter der Kanzel dem Wort allein nicht getraut
zu haben. Die Kanzel hält in Bildern ihre eigene Predigt. An der
Brüstung sind auf acht Feldern Reliefs zu biblischen Geschichten
gestaltet.
Jedes
dieser Felder umgibt ein stilisierter Torbogen. Wer vor den Reliefs
steht, bekommt den Eindruck, als würde er durch den Bogen in die
Bibelszene hineinschauen – und als müsste er nur einen Schritt
machen, um in sie einzutreten.
Du
bist gemeint, für dich wird diese Geschichte erzählt. Mehr noch: Du
bist Teil dieser Geschichte, für dich ist sie geschehen.
So
wie die Kanzelbrüstung gebaut ist, ragt eine Szene buchstäblich
heraus. Jesus steht im Jordan und beugt ein wenig Körper und Kopf.
Johannes steht am Ufer und gießt eine Schale mit Wasser über Jesu
Kopf aus. Der Wasserstrahl wirkt wie die Verlängerung des Strahls,
der aus einer strahlenden Wolke über den beiden auf Jesus fällt; in
der Mitte der Wolke breitet die Taube, das Symbol für den Heiligen
Geist, ihre Flügel. Ein wenig im Hintergrund wartet ein freundlicher
Engel mit einem Tuch in der Hand, dass Jesus aus dem Wasser steigt.
Dass
die Taufe Jesu im Mittelpunkt steht, ist Programm. Zum einen ist es,
wie der Kunstführer unserer Kirche sagt, „eine bemerkenswerte
Referenz an den Titelheiligen der Kirche in nachreformatorischer
Zeit.“ Die evangelisch gewordene Gemeinde bewahrt die geerbte,
überlebensgroße Figur von Johannes dem Täufer – und sie stellt
ihn auch auf der neuen Kanzel ins Zentrum.
Zum
anderen bekommt das Bild von der Taufe Jesu durch Johannes aber auch
seine eigene Deutung als Mitte des reformierten Glaubens: „Dies ist
mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Den sollt ihr
hören!“ So steht es auf dem Schriftfeld unter dem Relief: Christus
steht in der Mitte. Gott selber stellt Jesus in die Mitte.
Die
Geschichten von der Taufe ist Grundlage
für das, was Martin Luther und die Reformatoren in die Formel „solus
Christus – allein Christus“ fassen.
Für
die Reformatoren heißt das: Mit Christus fing alles an. In ihm haben
Menschen seiner Zeit ganz besonders erfahren, wie nah ihnen Gott
kommt.
Das
heißt auch: Nur in Christus kann ich wirklich Gott finden. Wohl kann
ich ihn erleben, wenn ich durchs Watt laufe oder ein Mensch mir in
die Seele schaut. Aber in Christus sehe ich Gott selbst dann noch,
wenn Katastrophen über mein Leben oder die Welt hereinbrechen.
In
Christus ist Gott mir dann noch nah, wenn ich meine, Gott für immer
verloren zu haben. In ihm erkenne ich, dass Gott mich liebt und mich
nie allein lässt.
Das
hat seinen Grund in den beiden Bildern, die sich an dieses Mittelfeld
anschließen: Kreuz und Auferstehung und Himmelfahrt.
Das
eine Bild zeigt, wie Jesus am Kreuz hängt, schon von einer Wolke
umgeben – er ist dem Tod und zugleich Gott nah. Dennoch ist er
immer noch ganz bei den Menschen.
Er
wendet sich Maria, seiner Mutter zu, die unter dem Kreuz steht, ein
Tuch vor dem Gesicht. Ihr gegenüber steht Johannes und schaut auf
sie. Wenn Jesus jetzt stirbt, sollen sie aufeinander Acht haben.
Diese
kleine Szene erzählt: Jesus lebt sein Leben ganz für andere. Er tut
das bis zum Tod. Und selbst sein Tod am Kreuz ist dafür ein Zeichen:
Er gibt sich ganz oder gar.
Der
Tod am Kreuz sieht wie ein Scheitern aus. Aber es ist gibt noch das
andere Bild: Auferstehung und Himmelfahrt. Im unteren Bildteil steht
Jesus mit erhobener Hand, in Siegerpose, aus seinem Grab auf. Im
oberen Bildteil verschwindet er im Himmel, nur noch seine Füße sind
zu sehen. In beiden Teilszenen umgibt ihn wieder die Wolke von Gottes
Nähe.
Dazwischen
staunen die Jünger über das, was geschieht. Sie schauen nach oben
und nach unten. Sie zeigen mit den Händen. Einer scheint sich im
Schreck verbergen zu wollen. Es ist schwer zu begreifen, was sie da
erleben.
Auferstehung
und Himmelfahrt erzählen: Auch dann, wenn Menschen sich gegen Gott
und seinen Gesandten stellen, wenn sie ihn sogar töten, haben sie
keine Macht. Gottes Macht ist stärker. Auferstehung und Himmelfahrt
bestätigen, dass der Weg, den Jesus gegangen ist, der richtige war.
Sie sagen: Ja, Gott wendet sich den Menschen zu. Jetzt erst recht.
Das
aber liegt allein an Gott. Auch das sagen die Reformatoren: „Sola
gratia – allein aus Gnade“. Die
Kanzel verdeutlicht das im Zusammenspiel der drei Anfangsfelder.
Das
erste erzählt den Sündenfall: Eva zeigt Adam den Apfel, den sie
schon angebissen hat. Adam hebt schon die Hand, um zuzugreifen. Über
ihnen windet sich im Baum die Schlange und freut sich, dass ihre List
aufgeht: Gleich werden Adam und Eva wie Gott wissen, was gut und was
schlecht ist.
Und
sie werden sich schämen: Sie werden es nicht mehr für möglich
halten, dass Gott ihnen nah ist, so nackt wie sie sind. Dieses
Gefühl, vor Gott nackt zu sein, kann ihnen keine Kleidung nehmen.
Die
Geschichte vom Sündenfall erzählt davon, wie der Mensch sich als
einer erlebt, der sich von Gott entfernt, egal, was er tut. Luther
kämpft lange Jahre mit der ihn quälenden Frage: Wie bekomme ich
einen gnädigen Gott? Wie schaffe ich es, dass Gott sich mir
zuwendet? Nackt wie ich bin? Mit allem, was ich tue, entferne ich
mich doch nur mehr von Gott.
Bis
er dann die Antwort findet: Nicht ich muss es schaffen. Gott tut es
einfach. "Sola gratia – allein aus Gnade." Als Geschenk, für das ich
nichts getan habe und nichts tun kann.
Diese
geschenkte Gnade, dass Gott sich einfach so zuwendet – sie zeigt
sich im zweiten Feld: Der Verkündigung an Maria.
Aus
einer Wolke herab schwebt ein Engel zu Maria, die erstaunt und doch
gefasst die erstaunlichen Worte des Engels hört: „Siehe, du wirst
schwanger werden.“ Der Engel, er verbindet Maria mit Gott, in ihm
zeigt sich, wie Gott sich den Menschen zuwendet. Er spricht sie an.
In
einem Stall kommt er zur Welt. Das zeigt das dritte Bild. Da liegt
der holde Knabe im Stroh, Maria und Josef schauen woanders hin. Doch
er ist da: Jesus, in dem Gott sich zeigt und den Menschen ganz nah
kommt. In einem einfachen Stall, in einer kleinen Provinz des großen
römischen Reiches.
Gott
tut alles, was bleibt dem Menschen da noch zu tun? „Sola fide –
allein der Glaube“, sagen die Reformatoren. Zu dem, was Gott
schenkt, gehört eine Haltung des Menschen.
Wenn
ein Mensch hinter mir die Arme ausbreitet, um mich zu umarmen, dann
kann ich das erst genießen, wenn ich mich umdrehe, um mich von ihm
in den Arm nehmen zu lassen.
Was
hilft es, dass Gott alles tut, wenn ich nichts davon mitbekomme? Dass
Gott sich mir zuwendet, das merke und sehe ich doch nur, wenn ich
mich Gott zuwende.
An
der Kanzel sind es die Sterndeuter, die in den Stall kommen und dem
Kind ihre Geschenke bringen. Einen langen Weg haben sie hinter sich
gebracht, um den zu finden, vor dem sie nun nacheinander auf die Knie
fallen.
Die
Kanzel stammt aus dem Jahr, in dem der dreißigjährige Krieg anfing,
der weite Regionen Deutschlands entvölkerte. Ich lese das Bild auch
als ein Kommentar dazu: Ihr Herren dieser Welt, kniet vor diesem
Kind, statt in seinem Namen gegeneinander Krieg zu führen.
Wem
Gott sich zuwendet, der soll sich Gott zuwenden. Und der kann sich
Gott zuwenden, sagen die Reformatoren. Weil Gott zuerst die Arme
ausbreitet, weckt er in mir den Wunsch und die Kraft, mich seinen
Armen anzuvertrauen.
Jesus
Christus sitzt als Richter auf der Weltkugel, ein Engel bläst auf
der Posaune, die Gräber öffnen sich und geben die Toten frei. Sie
stehen auf – die einen treibt ein Teufel in den Rachen eines
Drachen, den anderen zeigt ein Engel den Weg in den Himmel.
Mit
Adam und Eva fing es an. Sie haben am Anfang ihr Geschenk verspielt.
Gott hat sein Geschenk erneuert. Er hat seine Gnade auch dir
geschenkt. Verspiele sie nicht. So sagt das Bild.
Vielleicht
ist an ihm am meisten der Abstand der fünf Jahrhunderte zu sehen.
Welche Rolle spielen heute noch die Hoffnung auf den Himmel und die
Angst vor der Hölle?
Aber
auch dieses Bild sagt auf seine Weise: "Sola fide – allein durch den
Glauben": Dein Glaube muss Folgen haben. Er muss Folgen haben in
deinem Leben und für die, denen du begegnest.
Es
ist eine Mahnung an die, die unter der Kanzel sitzen: „Seid
aber Täter des Worts und nicht Hörer allein“ (Jakobus 1,22). Was wohl auch für
die Sprecher des Worts auf der Kanzel gilt.
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