Eine Tür öffnet sich in Zeit und Raum


Es ist Heiligabend. Der kleine Jakob wacht aus dem Mittagsschlaf auf. Schnell steht er auf, nimmt den Teddy und läuft ins Wohnzimmer.
Er weiß: Da steht der Tannenbaum, den der Vater am Vormittag geschmückt hat. Staunend hat er davor gestanden. Ganz oben der rote Stern, die vielen Bastengel. Hier ein Weihnachtsmann, da eine Holzglocke. Die Kerzen, und auch ein Glöckchen, mit dem er klingeln kann.
Als er jetzt ins Wohnzimmer kommt, hat die Mutter noch etwas aufgebaut. Unter dem Baum. Da stehen Holzfiguren. Schafe erkennt er, einen Esel, eine Kuh. Sie liegen vor und in einem Stall.
Menschen sind da auch. Könige, erklärt ihm die Mutter. Und Hirten. Und Maria und Josef. Und dann ist da noch das Baby. Das Jesuskind. Es liegt in einer Krippe.
Jakob kniet sich hin, nimmt die Figuren nacheinander in die Hand, beginnt mit ihnen zu spielen. Er kann sich von ihnen nicht trennen. Auch dann nicht, als die Mutter ihn anzieht, weil es Zeit für den Gottesdienst ist.
Er kann sich eine Figur aussuchen, die er mitnehmen darf. Noch einmal schaut er sich alle an, wie sie da vor ihm stehen. Dann greift er zu – und nimmt sich das Baby.
So kommt das Jesuskind mit in die Kirche. Die ganze Zeit hält er es fest. Während die Orgel spielt, Lieder gesungen werden, ein Mann redet. Immer wieder muss er das Baby betrachten. Er hält es sich dicht vor die Augen, zeigt es der Mutter, dem Vater. „Das ist das Jesuskind“, sagt er mit leuchtenden Augen und einem Lächeln.
Als Jakob aus der Kirche wieder zuhause ist, führt ihn sein erster Weg ins Wohnzimmer zum Baum. Vorsichtig legt er das Baby zurück an seinen Platz.
Das Jesuskind liegt wieder in seiner Krippe. Es ist Heiligabend.

Viele Jahrhunderte vor diesem Heiligen Abend beginnt einer, der sich Johannes nennt, einen Brief. Er schreibt:

„Was von Anfang an da war.
Was wir gehört haben.
Was wir mit eigenen Augen gesehen haben.
Was wir angeschaut
und mit eigenen Händen berührt haben. –
Darum geht es:
um das Wort, das Leben bringt.“
(1. Johannes-Brief 1,1 -- www.basisbibel.de)

Johannes schreibt. Er schreibt, als er würde er sich an jene eine, heilige Nacht erinnern.
Da saß er mit den anderen Hirten auf dem Feld. Über sich den sternenhellen, weiten Himmel. Vor sich das Feuer, das knisterte und rauchte. Um sich das tiefe Atmen der anderen Hirten, das nahe Blöken der Schafe. Hin und wieder in der Ferne das Heulen eines Schakals.
Plötzlich das gleißende Licht, das ihn blendete und die anderen aus dem Schlaf riss. Das Herz stand still, er vergaß zu atmen, die Zeit setzte aus.
Aus dem Licht eine Stimme: „Habt keine Angst. Heute ist für euch der Retter geboren worden.“
Tatsächlich: Die Angst schwand, die Zeit lief weiter. Und auch er und die anderen Hirten liefen. Sie eilten durch die Nacht, um den Retter zu finden. Sie fanden ein neugeborenes Kind, es lag in Windeln gewickelt in einer Futterkrippe.
Sie standen an seiner Krippe dort und konnten sich nicht satt sehen. Johannes reichte ihm einen Finger – und das Kind umfasste ihn mit seiner winzigen Faust.

Johannes ist nicht dabei gewesen in jener heiligen Nacht. So wenig wie der kleine Jakob sie erlebt hat.
Dennoch ist es, als wären sie dabei gewesen. So wie wir alle Jahre wieder dabei sind – und manchmal sogar mittendrin.
Es ist, als würde alle Jahre wieder eine Tür sich öffnen in Zeit und Raum. Manchmal nur einen Spalt breit, manchmal sperrangelweit. Sie öffnet sich – und du schaust hindurch.
Du riechst das Stroh. Du hörst das Schnaufen des Ochsen. Du siehst das Kerzenlicht in der Laterne. Du streckst die Hand aus und berührst das kleine Menschenwesen.
Und das Leben berührt dich. Verletzlich ist es und voller unbändiger Kraft. Offen liegt das Geheimnis des Lebens vor dir. Du begreifst es und findest doch keine Worte dafür.
Aber du nimmst es mit und bewegst es in deinem Herzen. Du trägst es im Herzen. Und du spürst: Es trägt dich in seinem Herzen.
Du gehst mit ihm in dir durch deine Tage. Und du erkennst es wieder, wenn es dir anderswo begegnet.

Eine Frau kauert im Schneidersitz auf dem Boden. Auf ihrem Schoß sitzt ihr kleiner Sohn. Eine goldene Folie hat sie gegen die Kälte um sich und den Jungen gelegt. Vor ihr steht ein Breigläschen. Mit dem linken Arm hält sie das Kind. Mit der recht Hand füttert sie ihm den Gemüsebrei.
Sie sitzt auf dem Hamburger Hauptbahnhof. Für eine Nacht nur will sie dort bleiben mit ihrem Sohn. Sie sind auf der Durchreise. Sie wollen nach Schweden, zu ihrem Mann, zum Vater des Kindes.
5.000 Kilometer Flucht liegen schon hinter ihnen. Eine Fahrt mit einem Transporter über die syrisch-türkische Grenze. Die Überfahrt über das Mittelmeer nach Italien – auf einem überfüllten Fischerboot, das kurz vor der Küste von seiner Besatzung verlassen wird. Eine Zugfahrt durch Italien und Österreich. Eine Busfahrt über die deutsche Grenze. Und wieder eine Zugfahrt. Und immer Angst.
Jetzt sitzt sie in Hamburg und wartet, dass es weitergeht. Irgendwie, irgendwo. Mit dem Zug, mit der Fähre. In die Freiheit. In den Frieden. Ins Leben jenseits der Angst.

Johannes schreibt in seinem Brief:

„Denn das Leben selbst ist sichtbar geworden,
und wir haben es gesehen.
Wir sind Zeugen dafür
und verkünden es euch:
Es ist das ewige Leben,
das beim Vater war
und für uns sichtbar wurde.“
(1. Johannes-Brief 1,2 -- www.basisbibel.de)

Manchmal ist es, als würde sich eine Tür in Zeit und Raum öffnen. Und das Kind aus der Krippe im Stall tritt durch diese offene Tür hindurch.
Es wechselt die Welten. Aus seinem zeitlosen Überall taucht es für einen Menschenaugenblick in Hamburg auf. Da sitzt es im Schoß seiner Mutter, mit ihr in eine goldene Folie gehüllt, und isst den Brei, den sie ihm Löffel für Löffel reicht.
Ich stehe vor ihm und schaue es unentwegt an – und das Kind erwidert den Blick. Und ich sehe, wie wertvoll das Leben ist und wie gefährdet. Ständig ist es bedroht und zugleich liegt Segen auf ihm.
Es schaut mich an und ich weiß: Ich bin gefragt. Ich Mensch. Ich gehöre mitten hinein in die Lebensgeschichte des Kindes. Ich bin verwoben und verstrickt in die Geschichte, die das Kind vom Leben erzählt. Ich soll sie mitschreiben.
Ich soll das Leben tragen. Nicht mein eigenes. Sein eigenes Leben tragen, das kann nur Münchhausen. Ich soll das Leben des anderen tragen, der mich anschaut. Aus dem mich das Kind aus der Krippe anschaut.
Und ich ahne: Auch in meinem Blick werden andere das Kind aus dem Stall erkennen, wie es sie anschaut – und sie werden mein Leben tragen.

Johannes schreibt:

„Was wir gesehen und gehört haben,
das verkünden wir auch euch.
Dadurch sollt auch ihr mit uns verbunden sein.
Und mit uns verbunden zu sein,
heißt zugleich:
Mit dem Vater
und seinem Sohn Jesus Christus
verbunden zu sein.“
(1. Johannes-Brief 1,3 -- www.basisbibel.de)

Die vierte Klasse der Midlumer Grundschule hat in diesem Jahr bei vielen Adventsfeiern ein Krippenspiel aufgeführt: Zwei Dekorateure sollen ein Schaufenster weihnachtlich gestalten. Krippenfiguren stellen sie auf, mit denen sie nichts anzufangen wissen. Hirten und Engel, Maria und Josef. Das Kind.
Als sie weg sind, erwachen die Figuren zum Leben. Sie entfernen die Preisschilder und spielen ihre Geschichte. Alle Jahre wieder bleibt sie dieselbe und wird doch immer ganz anders.
Was in diesem Jahr anders war: Der Engel hatte weiße Flügel und ein weißes Gewand und einen hellen Stern. Und dazu braune Augen und schwarze Haare. Mit klarer Stimme und ganz leichtem Akzent verkündete der Engel: „Euch ist heute der Heiland geboren.“
Nach der Aufführung stellte sich mit den anderen Mädchen und Jungen auch die Engelin vor: „Ich heiße Zenab und wohne in Midlum.“ Vor etwas mehr als einem Jahr kam sie mit ihren Schwestern und ihren Eltern aus Afghanistan auf die Insel.

Das Kind bringt Menschen zusammen. Seine Geschichte verbindet die Menschen.
Sie erzählt davon, dass Gott ins Leben gekommen und Mensch geworden ist. Und manchmal geschieht es, dass wir von einem Augenblick auf den anderen ins Leben kommen und Menschen werden. Und für diesen einen Augenblick ist die alte Geschichte vom Heiligen Abend die phantastischste und wahrste Geschichte, die wir vom Menschen und von Gott erzählen können.

„Dies schreiben wir“, schreibt Johannes,
„um unsere Freude vollkommen zu machen.“
(1. Johannes-Brief 1,4 -- www.basisbibel.de)

Es ist Heiligabend. Es werde Heiligabend. Amen.

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