Engelbesuch - eine Begegnung in der Christnacht

I. Sei gegrüßt

Sei gegrüßt!
N'abend. Unser Haus ist voll.
Fürchte dich nicht.
Ich fürchte mich nicht. Aber unser Haus ist voll.
Fürchte dich nicht. Du wirst heute noch Besuch bekommen.
Ich sagte bereits …
Ein Mann wird dich um ein Zimmer bitten.
Wir haben keinen Platz.
Für sich und seine schwangere Frau.
Tut mir leid, aber ich kann nicht …
Die Frau wird ihr Kind bei dir zur Welt bringen.
Nein, wird sie nicht. Auf Wieders …
Fürchte dich nicht.
Aber ich … Was soll das?
Was?
Dieses andauernde: „Fürchte dich nicht!“
Ich sehe deine Angst.
Ich habe keine Angst. Und selbst wenn es so wäre, das ändert nichts daran: Es ist kein Raum in der Herberge.
Du hast doch Angst.
Wovor sollte ich Angst haben? Vor einem Mann, der an meine Tür klopft? Das ist mein Alltag, dass Fremde bei mir klopfen. Aber ausgerechnet heute sind wir ausgebucht.
Du fürchtest dich vor dem Kind.
Vor welchem Kind?
Das bei dir, in deinem Haus, geboren wird.
Sicher nicht. Und vor allem: Nicht in meinem Haus.
Du fürchtest dich vor dem Fremden.
Wieso sollte ich? Ich lebe von den Fremden.
Bei diesem Fremden wird es anderes sein. Du wirst für es leben.
Auch das tue ich schon. Ich bin für die Fremden da. Selbst dann, wenn sie spät klopfen und merkwürdiges Zeug reden: „Fürchte dich nicht.“
Ich will dich nur warnen.
Wovor?
Das Kind wird dich verändern.
Wie soll ein fremdes Kind mich verändern – eines, das ich nie sehen werde?
Selbst wenn: Das Kind wird dich sehen, das reicht.
Langsam habe ich genug.
Es kennt dich.
Klar. Ein fremdes Kind kennt mich. Noch bevor es geboren ist.
Es hält dir den Spiegel vor.
Was?
Das Kind wird dich anschauen und du erkennst dich selber.
Aber ich werde das Kind nicht …
Du kannst nicht weglaufen.
Will ich auch gar nicht. Aber es ist …
… kein Raum in der Herberge. Ich weiß. Das ist immer so.
Was heißt hier immer?
Überall, wo wir hinkommen, ist erst einmal kein Platz.
So ist das um Weihnachten auf Föhr …Was hast du gesagt?
Überall, wo wir hinkommen, ist erst einmal kein Platz.
Machst du das öfter? An fremde Türen klopfen auf der Suche nach einem Zimmer?
Ja, alle Jahre wieder. Und dieses Jahr bei dir.
Dieses Jahr bei mir?
Ja. Das Kind hat dich ausgesucht.
Aber es ist doch noch gar nicht geboren.
Jetzt weißt du, von welchem Kind ich rede.
Aber das begab sich doch zu der Zeit, als Kaiser Augustus …
Da zuerst. Und dann immer wieder. Und heute begibt es sich bei dir. – Können wir also in deinen Stall?
Nein. Ich meine: Ja.
Na endlich. Danke.
Ich habe Angst.
Fürchte dich nicht.

II. Komm mit

Ist das Kind schon da?
Ja, komm mit. Ich zeig es dir.
Da liegt es, das Kindlein.
Im Heu und im Stroh.
Maria und Josef betrachten es froh.
Und du?
Was?
Wie betrachtest du das Kindlein?
Ich sehe es mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen.
Ja. Das singen sie immer alle.
Es ist ein Wunder.
Ja. Das sagen auch die anderen immer.
Kein Wunder.
– Schweigen –
Ich könnte hier stundenlang stehen.
Geht mir auch jedes Mal so. Dabei habe ich schon so oft …
Du hast es gut.
Ach, weißt du, jedes Mal der Kampf vorher.
Bis das Kind zur Welt kommt.
Nein, bis ihr ihm euren Stall öffnet.
Du hättest mir das sagen …
Habe ich. Aber du konntest es nicht hören.
Wenn ich gewusst hätte.
Ja, ihr wisst es immer erst hinterher. Wenn ihr es erlebt habt.
Du hast es gewusst?
Was?
Dass ich mich so verhalten würde?
Klar. Ich mache das ja alle Jahre wieder. Und soll ich dir was sagen?
Bitte.
Ich mag diesen Augenblick, wenn sich euer Gesicht verwandelt.
Wie verwandelt? Sehe ich jetzt anders aus?
Schau das Kind an. Es ist dein Spiegel.
Das sagtest du doch schon einmal.
Ja, sagte ich. Und was siehst du?
Es schaut mich freundlich an. Es lächelt. Zufrieden ist es.
Siehst du. So siehst du jetzt auch aus.
Und vorher?
Ehrlich?
Ehrlich!
Ein wenig verkniffen sahst du schon aus. Angespannt.
Naja, wenn da plötzlich einer vor dir steht und „Fürchte dich nicht“ sagt.
Das war nicht nur der Augenblick. Das weißt du.
Aber jetzt ist es anders. Wirklich anders.
Das sehe ich. Ein Lächeln von dem Kind und alles ändert sich.
Merkwürdig, dass es so ist.
Ein Segen, dass es so ist. Soll ich dir noch etwas sagen?
Bitte.
Ihr solltet nicht so oft in den Spiegel schauen.
Wieso das?
Im Spiegel seht ihr nur, was ihr gewohnt seid zu sehen. Aber wenn ihr das Kind anschaut …
Ja? Was ist dann?
Dann entdeckt ihr etwas Neues an euch.
Nämlich?
Ihr entdeckt, wie das Kind euch mit Freuden ansieht und sich an euch nicht satt sehen kann.
Das kann ein Spiegel tatsächlich nicht.
Mit seinem Blick Liebe in euch hineinlegen – das kann nur das Kind.
Wie gut, dass ihr dieses Jahr bei mir zu Gast seid.
Ja, nicht wahr? Das sagen sie auch immer alle.
Und ich habe gar nichts.
Was hast du nicht?
Ich habe kein Geschenk für das Kind.
Na, warte nur ein wenig ab.

III. Versuch es

Du kommst, um dich zu verabschieden.
Ja.
Schade. Ihr hättet ruhig noch bleiben können. Und nach Silvester hätte ich auch wieder Platz …
Es ist gut so.
Ja. Nein. Es kann doch nicht einfach so zuende sein.
Wer sagt denn, dass es jetzt zuende ist?
Du verabschiedest dich. Und das Kind und seine Eltern sind schon weg. Das ist doch das Ende.
Das ist der Anfang. Es gibt ein Leben nach dem Fest.
Aufräumen! Das Leben nach dem Fest ist das Aufräumen.
Gute Idee: Sammel ein, was du erlebt hast. Lege es in dein Herz.
Und dann?
Dann schau ab und zu in den Spiegel.
Hast du nicht gesagt, wir sollten nicht so viel in den Spiegel...?
Schau in den Spiegel und schließe die Augen und schau in deinem Herz an, was du erlebt hast mit dem Kind, und warte einen Augenblick und dann schaue wieder in den Spiegel.
Was sehe ich dann?
Probiere es aus.
Jetzt?
Hier ist ein Spiegel.
– Schweigen –
Was siehst du?
Ich sehe mich mit anderen Augen.
Genau.
Ich sehe mich mit den Augen des Kindes.
Und was siehst du?
Es schaut mich freundlich an. Ich schaue mich freundlich an.
Gut, oder?
Ja.
Alter Engeltrick. Kannst du gern weitergeben.
Und der gelingt immer?
Nicht immer. Nur, wenn dich das Kind einmal angeschaut hat.
Das hat es.
Und wenn du darauf vertraust, dass es stimmt. Egal, wie du dich fühlst und was du von dir hältst. Es stimmt. Das Kind schaut dich freundlich an.
Danke.
Gern. – Es gibt auch etwas, dass du für das Kind tun kannst. Du suchtest doch noch ein Geschenk.
Ja. Wenn ich das kann. Was ist es?
Oh, es ist ganz einfach. Schau andere Menschen an, die zu dir kommen.
Mehr nicht?
Mehr nicht. Schau sie so an, wie dich das Kind angeschaut hat. Werde ihnen zum Spiegel.
So wie das Kind? Das kann ich nicht.
Doch. Du beherrschst den Engeltrick. Dann kannst du auch Spiegel sein.
Und wie mache ich das?
Es funktioniert wie der Engeltrick. Nur mit einem anderen Menschen statt mit einem Spiegel.
Ich schaue den anderen an und schließe die Augen und erinnere mich, wie das Kind mich angeschaut hat,und öffne wieder die Augen und schaue den anderen genau so an.
Genau so.
Und das gelingt nur, wenn mich das Kind angeschaut hat.
Und wenn du wirklich und wahrhaft meinst, dass das Kind den anderen so freundlich anschaut, wie es dich anschaut.
Egal, wie ich zu dem anderen stehe.
Und egal, wie er zu dir steht.
Das ist schwer, verdammt schwer.
Das sagen sie immer alle.
Und?
Versuch es. Es braucht nur einen Augenblick.
Ich fürchte, es braucht viele Augenblicke.
Mag sein. Aber jeder, der gelingt, ist wie eine Rose, die aufblüht, oder ein Licht, das aufscheint.

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