Immer schön brav und artig

Sind Sie denn auch immer schön brav und artig gewesen? Einmal Kopfschütteln oder Kopfnicken reicht mir als Antwort.
Sie sind der Meinung, dass ich Ihnen mit dieser Frage zu nahe trete? Recht haben Sie. Im Ernst würde ich mir nie erlauben, sie Ihnen zu stellen. Kein Erwachsener würde sie einem anderen Erwachsenen stellen.
Kinder allerdings müssen sich in diesen Tagen voller Nikoläuse und Weihnachtsmänner dieser aufdringlichen Frage stellen. Bist du denn auch immer schön artig gewesen? Was sollen Kinder darauf antworten?
Ich habe wegen dieser Fragerei den Nikolaus als Kind nie gemocht. Er kam mit einem Sack und einer Rute immer zur Weihnachtsfeier meines Fußballvereins. Vor versammelter Mannschaft zählte er auf, dass ich frech zum Trainer und lauffaul war und drohte mir mit der Rute.
Aber dann wollte er doch nicht so sein, weil ich ja immerhin nicht ganz schlecht spielte. Er griff in seinen Sack und holte ein kleines Geschenk für mich heraus.
Die Erwachsenen lachten, als sei es ein lustiges Spiel. Ich war viel zu beschämt, um mich über das Geschenk freuen zu können. So war das mit dem Nikolaus.

Vom Nikolaus zum Propheten Johannes, der nichts mit dem Täufer und nichts mit dem Jünger gleichen Namens zu tun hat. Ihn verschlägt es auf eine Insel. Dort hat er Visionen und Träume.
Er sieht den Menschensohn, den Richter über die Menschen, der ihn als seinen Schreiber einsetzt. Er soll aufschreiben, was er sieht und hört, und es dann an sieben Gemeinden schicken – unter anderem der Gemeinde in Ephesus.
Also schreibt der Prophet Johannes, was er hört:

»Schreibe an den Engel der Gemeinde in Ephesus:
›So spricht der,
der die sieben Sterne in seiner rechten Hand hält –
der zwischen den sieben goldenen Leuchtern umhergeht:

Ich kenne deine Taten:
deinen Einsatz und deine Standhaftigkeit.
Ich weiß,
dass du keine bösen Menschen bei dir duldest.
Du hast diejenigen auf die Probe gestellt,
die sich selbst Apostel nennen,
es aber nicht sind.
Und du hast sie als Lügner entlarvt.
Du bist standhaft
und hast viel ertragen,
weil du dich zu mir bekennst.
Und du hast darin nicht nachgelassen.

Aber ich habe dir vorzuwerfen,
dass deine anfängliche Liebe nachgelassen hat.
Mach dir klar,
aus welcher Höhe du gefallen bist.
Ändere dich
und handle wieder so wie am Anfang.
Sonst werde ich gegen dich vorgehen.
Ich werde deinen Leuchter von seinem Platz entfernen,
wenn du dich nicht änderst.
 
(Offenbarung des Johannes 2,1-5 -- www.basisbibel.de)
 
Keine einzige Frage schreibt Johannes für die Gemeinde in Ephesus auf. 
Dennoch: Ich höre zwischen den Zeilen ganz laut und deutlich eine Frage: „Seid ihr denn auch immer schön brav und artig gewesen – ihr Kinder Gottes?“ Und ich höre noch lauter und deutlicher: „Ich will es euch sagen!“
Wie gut, dass nicht ich gemeint bin. Die Kinder Gottes, das sind die Gemeinde damals. Was Johannes aufschreibt, das gilt den Christen, die am Ende des ersten Jahrhunderts in Ephesus wohnen.
Die Hafenstadt an der Westküste der heutigen Türkei ist damals ein buntes Durcheinander von Kulturen und Religionen. Sie ist ein Knotenpunkt im wirtschaftlichen und machtpolitischen Netz des römischen Reiches. Ein römischer Statthalter sitzt dort. 
Ziemlich früh kommt der junge christliche Glaube dorthin. Um das Jahr 50 gründet sich dort eine Gemeinde. Vierzig, fünfzig Jahre später scheint es für die Menschen in der Gemeinde nicht leicht, ihren Glauben zu leben.
Sie haben mit Problemen im Inneren zu tun. Böse Menschen gibt es in der Gemeinde, falsche Apostel treten auf. Vermutlich sind es Anhänger eines Nikolaus von Antiochia. 
Sie meinen, dass man sich bedenkenlos jedem Genuss hingeben könne. Schließlich sei der menschliche Körper, der sich und anderen Schlechtes tut, ja vergänglich. In der Auferstehung werde er dann ausgetauscht gegen einen neuen, reinen Körper.
Auch von außen bekommt die Gemeinde Druck zu spüren. Der Statthalter versucht durchzusetzen, dass der Kaiser in Rom als Gott verehrt wird. Das sollen auch Christen und Juden tun – für die es aber nur den einen Gott gibt, neben dem sie keinen anderen Gott verehren sollen und wollen.
Aber die Menschen in Ephesus fallen nicht auf die falschen Apostel herein, die meinen, dass es auf das Tun nicht ankäme. Sie grenzen sich von denen ab, für die es keine Regeln mehr gibt. Sie verweigern den Kniefall vor dem angeblich göttlichen Kaiser, den die Provinzbeamten von ihnen fordern. Sie halten am ersten Gebot fest: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Sie sind brav und artig gewesen, dort in Ephesus.
Aber das reicht nicht. Auch das schreibt Johannes auf: „Ich habe dir vorzuwerfen, dass deine anfängliche Liebe nachgelassen hat.“
Plötzlich trifft die Frage mich: Bist du immer brav und artig gewesen – du Kind Gottes? Was Johannes aufschreibt, löst sich auch von der Geschichte und der Gemeinde in Ephesus. Es springt aus den alten Worten in mein Leben. 
Was den Ephesern gilt, gilt auch mir: Deine anfängliche Liebe hat nachgelassen.
Ich kenne das: Am Anfang, wenn die Liebe neu ist, bin ich von ihr und durch sie begeistert. Ich spüre das Besondere, das sie in mein Leben bringt. Sie weckt das Besondere in mir. Sie reizt mich, etwas Besonderes zu tun.
Was ich mir da nicht vorstellen kann: Dass ich mich daran gewöhne. Dennoch tue ich es. Nach einer Weile ist das Besondere nicht mehr besonders.
Am Anfang suche ich lange nach etwas Kleinem, das ich ihr am Nikolaustag in die Schuhe stecken kann – etwas, das ihr sagt, wie besonders sie für mich ist. Und ich putze meine Schuhe und stelle sie hin, weil ich mich freue: Sie ihrerseits beschenkt mich genauso liebevoll.
Nach drei Jahren gemeinsamem Nikolaus gebe ich mich schon damit zufrieden, ihr eine Mandarine und zwei Nüsse in den Schuh zu legen. 
Nach fünf Jahren höre ich auf, zum Nikolaustag meine Schuhe zu putzen, weil wir uns darauf verständigt haben, uns nichts mehr zu schenken.
„Handle wieder so wie am Anfang“, schreibt Johannes mir: Erinnere dich an das Besondere, wische den Staub der Gewohnheit ab und bringe es neu zum Glänzen. 
Was für Mensch und Mensch gilt, das gilt auch und noch mehr für Gott und Mensch.
Da ist etwas Besonderes zwischen ihm und dir. Du weißt das, du spürst das. Er stellt dich in den weiten Raum seines Segens.
Das spürst du, wenn du gesegnet wirst an den Wendepunkten deines Lebens. Wenn du aus einem Lebensraum in einen anderen trittst und auf der Schwelle Gottes Nähe findest.
Dann bist du in dem neuen Raum. Du wirst angefüllt mit dem, was jeder Tag Alltägliches und Schönes und Unerfreuliches bringt. Die Schwelle ist weit weg. Und der Segen?
Er ist da, er füllt den weiten Raum um dich. Aber ihn spüren und bewusst wahrnahmen, das wirst du erst wieder an der nächsten Schwelle.
„Handle wieder so wie am Anfang“, schreibt Johannes: Erinnere dich an das Besondere, das der Segen in dein Leben bringt. Suche nach den Segensschwellen in deinem Alltag. Nach Orten und Augenblicken, auf denen besonderer Segen liegt.
Der Advent ist für mich so eine Segensschwelle. Jahr für Jahr erhebt sie sich zwischen dem Dunkel und dem Licht. 
An den Abenden, an denen wir uns in unseren Dörfern zum Lebendigen Adventskalender treffen, stehen wir auf dieser Schwelle. Wir stehen ganz wortwörtlich im Dunkeln und in der Kälte und im Sturm vor den Häusern. 
Dann öffnet sich das Fenster und sein Licht fällt auf uns. Das Licht, mit dem es geschmückt ist. Und das Licht, das von der Geschichte ausstrahlt, die das Fenster erzählt. Meistens handelt sie davon, wie es in einem Leben hell und warm wird – für einen Augenblick jedenfalls.
Etwas von diesem Licht geht über auf uns, die vor dem Fenster stehen. Es ist auch dann zu spüren, wenn wir noch ein wenig zusammen sind bei einem Punsch und miteinander erzählen.
Advent erlebe ich an diesen Abenden vor den Fenstern.
Advent, das heißt für mich: Gott ist noch nicht da. Aber er ist nicht mehr weit weg. Er kommt. 
Und wenn er da ist, wird mir womöglich die Frage stelle: Bist du denn immer brav und artig gewesen? Die Frage macht mich unruhig, weil ich meine Antwort natürlich kenne. Aber mit jedem Abend im Advent ahne ich mehr, welche Antwort Gott auf diese Frage geben wird. 
Und werde ganz ruhig dabei und spüre die Vorfreude steigen. Eine Freude, die Sehnsucht in sich trägt, weil vieles noch nicht ist, wie es sein soll. Und eine Freude, die Hoffnung in sich trägt, weil alles werden wird, wie Gott es will.

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