Saurer Apfel, süße Birne

Wer hat die Welt erlöst allein? / Kyrieeleison! / Das hat getan das Christkindlein, das hat erlöst die Welt allein! / Jesus und Maria.


Jesus und Maria. Das Tafelgemälde auf dem linken Seitenflügel des Altars in St. Johannis zeigt sie.
Sie sind nicht gleich zu entdecken. Zuerst fällt der Prediger hinter seinem Holzpult ins Auge: Johannes der Täufer. An den Fingern scheint er abzuzählen, was er zu sagen hat. Um ihm herum die Menschen, die zu ihm an den Jordan gekommen sind.
Vor ihm auf dem Boden sitzt eine Frau in schwarzem Kleid und weißem Tuch. Den Kopf hält sie geneigt, einen Zipfel des Tuchs hält sie sich seitlich ins Gesicht. Sie scheint traurig zu sein. Oder schaut sie nur auf das Kind, das vor ihr sitzt?
Ein rotes Kleid trägt das Kind und eine weiße Schürze. Mit gespreizten Fingern hält es Früchte. In der linken Hand eine halbe Birne, auf ihr liegt sein Blick. Ob es hineinbeißen will? Mit der rechten Hand greift es – ohne hinzuschauen – nach einem Apfel, den die Frau ihm reicht.
Mutter und Kind, Jesus und Maria. Sie passen so nicht ins Bild. Das Lukasevangelium erzählt, dass Johannes der Täufer nur ein halbes Jahr älter war als Jesus. Und es erzählt wie die anderen Evangelien auch, dass Jesus ein erwachsener Mann war, als er ohne Maria zu Johannes an den Jordan kam.
Jesus und Maria. Die kleine Szene ist ein Bild im Bild. Es malt seine eigene Geschichte. Sie ist angedeutet in den Gesten und Blicken, sie ist versteckt im Apfel und in der Birne.
Man kann sie so erzählen: Jesus nimmt den sauren Apfel von Maria. So wie in einer anderen Zeit Adam den Apfel von Eva nahm. Mit einem Unterschied: Adam nahm den Apfel entgegen, Jesus nimmt ihn weg.
Mit dem Apfel kam die Sünde in das Leben der Menschen. Von Generation zu Generation wurde er weitergegeben. Jesus bricht mit der Tradition. Er nimmt die Sünde von Maria. Er nimmt die Sünde von den Menschen.
Statt des sauren Apfels gibt es jetzt die süße Birne. Jesus hat schon kräftig hineingebissen. Sie schmeckt nach Liebe, nach grenzenloser Zuwendung und unbedingter Hingabe.
Auf ihr ruht der Blick von Jesus. Sie ist seine Aufgabe, seine Bestimmung. Marias gesenkter Blick fällt auf Jesus und geht gleichzeitig nach innen. Trauer treibt sie um. Über das Böse, das in der Welt ist und seit Jahr und Tag von Mensch zu Mensch weitergegeben wird. Über das Opfer, das es von dem fordert, der bedingungslos liebt.

Wer hat die Welt erlöst allein? / Kyrieeleison! / Das hat getan das Christkindlein, das hat erlöst die Welt allein! / Jesus und Maria.

Was das Lied besingt und das Tafelgemälde ausmalt, fasst Paulus auf seine Weise in Worte. Er schreibt in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth:

So wahr Gott treu ist:
Keines unserer Worte an euch
bedeutet gleichzeitig Ja und Nein.
Denn es war Gottes Sohn,
Jesus Christus,
den wir bei euch verkündet haben –
wir, das heißt:
ich, Silvanus und Timotheus.
Und Gottes Sohn war nicht Ja und Nein zugleich,
sondern er ist das Ja in Person.
Durch ihn sagt Gott Ja zu allem,
was er je versprochen hat.
Deshalb berufen wir uns auf ihn,
wenn wir »Amen« sagen.
Und so machen wir Gottes Herrlichkeit noch größer.
Gott aber ist es,
der uns gemeinsam mit euch
im Glauben an Christus festigt.
Er hat uns gesalbt
und uns sein Siegel aufgedrückt.
Dazu hat er uns den Heiligen Geist
als Vorschuss ins Herz gegeben.

(2. Brief an die Gemeinde in Korinth1,18-22 – www.basisbibel.de)

Paulus hatte es oft genug nicht leicht mit seinen Gemeinden. Wenn er bei ihnen war, konnte er ihnen weitersagen, was ihm am Herzen lag. Er konnte sich und seine Sache erklären und noch einmal erklären und noch ein weiteres Mal erklären.
Sobald Paulus weiterzog, begannen die Probleme. Je größer der räumliche Abstand wurde, umso mehr Platz öffnete sich für Fragen: Hatte Paulus es so oder anders gemeint? Was hatte er eigentlich genau sagen wollen?
Und je mehr Zeit verstrich, umso mehr wucherten die Zweifel: Hatte Paulus es ehrlich gemeint? War er glaubwürdig?
Also schreibt Paulus nach Korinth: „So wahr Gott treu ist: Keines unserer Worte an euch bedeutet gleichzeitig Ja und Nein.“
Paulus wehrt sich gegen den alten Grundverdacht. Seit Adam und Eva steht er zwischen Menschen, sobald sie zu zweit oder dritt zusammen sind: Der andere sagt das eine und meint das andere. Er sagt Ja zu mir. Aber er meint Nein. Er sagt: Er will nur mein Bestes. Aber ich weiß: Er sucht seinen Vorteil.
Das ist der saure Apfel, in den wir seit Adam und Eva beißen: Nichts, was der andere sagt und tut, ist eindeutig. Es ist gefährlich, ihm zu vertrauen. Wenn ich mich auf ihn verlasse, bin ich schnell verlassen.
Die großen Spiele der Politik und der Wirtschaft laufen nach diesen Regeln. Davon senden und schreiben die täglichen Nachrichten. Zu selten geht es um die Sache, zu oft um die Macht. Flüchtlinge aufzunehmen, ist grundsätzlich wichtig. Aber es ist nur richtig, wenn es die Wiederwahl befördert.
Zu selten geht es um das Wohl anderer, zu oft um das eigene Interesse. Wegen der Umwelt Abgaswerte einzuhalten, ist  wohl ein Ziel auf dem Papier – was wirklich zählt, sind die Gewinne, die mit Autos eingefahren werden, gegebenenfalls auch mit groß angelegtem Betrug.
Auch die Spiele im alltäglichen Miteinander laufen nach diesen Regeln: Ein Mädchen steht auf einer Mauer, die Mutter steht unter ihm und streckt ihm die Arme entgegen. „Spring“, sagt sie zu ihm. Das Mädchen zögert. „Spring, ich fang dich auf!“ Das Mädchen springt.
Die Mutter tritt beiseite. Das Mädchen schlägt sich die Knie auf. Die Mutter schaut auf ihre weinende Tochter herab: „Ich will, dass du lernst, niemandem zu vertrauen.“
Vertrauen sei gut, heißt es, aber besser sei doch der Grundverdacht: Der andere meint es nie und niemals ehrlich – nicht mit dem, was er sagt, nicht mit mir.
Paulus wehrt sich dagegen. Der Grundverdacht zerstört alles Vertrauen. Zu glauben aber bedeutet nichts anderes als zu vertrauen, Gott zu vertrauen. Also zerstört der Grundverdacht auch den Glauben. Wo Menschen einander nicht mehr vertrauen können, verlieren sie früher oder später auch den Glauben an Gott.

Doch gerade von Gott und vom Glauben will und muss Paulus reden. Gegen den Grundverdacht, der alles Vertrauen zersetzt, bringt er das Grundvertrauen ins Spiel. Er schreibt nach Korinth:
„Es war Gottes Sohn, Jesus Christus, den wir bei euch verkündet haben. … Und Gottes Sohn war nicht Ja und Nein zugleich, sondern er ist Gottes Ja in Person. Durch ihn sagt Gott Ja zu allem, was er je versprochen hat.“
Das klingt, als würde Paulus singen: Wer hat die Welt erlöst allein? / Kyrieeleison! / Das hat getan das Christkindlein, das hat erlöst die Welt allein!
Das klingt auch, als wäre Paulus der Prediger hinter dem Holzpult. Als sähe er vor sich die Mutter und das Kind, wie es den Apfel nimmt und die Birne bringt.
Ihr könnt Grundvertrauen haben, höre ich diesen Paulus hinter seinem Pult sagen. Ihr habt einen Grund, zu vertrauen: Gott ist Mensch geworden.
Natürlich: So predigt Paulus nicht. Paulus predigt in seinen Briefen nie von Weihnachten und immer von Kreuz und Auferstehung.
Aber wir können so am Ende des Advents schon von Weihnachten reden: „Jesus Christus ist Gottes Ja in Person. Durch das Kind in der Krippe sagt Gott Ja zu allem, was er versprochen hat.“
Welches Ja könnte größer und eindeutiger und lebendiger klingen als ein Kind, das geboren wird?
Ein Kind, das in die Welt kommt, ist Vertrauen in Fleisch und Blut: Vertrauen darin, dass die Liebe trägt, der es sich verdankt. Und Vertrauen darin, dass das Leben, das ihm geschenkt wird, einen Sinn hat.
Wenn wir seit 2000 Jahren alle Jahre wieder erzählen, dass Gott Mensch wird, dann erzählen wir von dem Grund für dieses Vertrauen: Gott vertraut in die Liebe, die trägt, er vertraut in das Leben, das sinnerfüllt ist. Warum sollte er sonst in die Welt kommen?
Und wozu sollte er es tun? Wenn nicht dazu, dass wir dieses Vertrauen wagen und lernen und bewahren?

Auf dem Tafelgemälde ist beides zu sehen: der Apfel und die Birne. In der Welt und im Leben, wie sie sind, ist beides gleichzeitig und nebeneinander da: die Sünde und die Liebe. Mein Leben wandert zwischen den beiden Polen hin und her: dem Grundverdacht und dem Grundvertrauen.
Mich prägt, was ich erfahre: Ich vertraue dem Leben und der Liebe. Ich erfahre immer wieder, dass ich einen Platz habe auf dieser Welt. Und dass Menschen um mich sind, die sich mir liebevoll zuwenden.
Zugleich prägen sich mir auch die Zweifel ein: Trägt das Leben wirklich einen Sinn in sich, der über den Augenblick hinaus dauert? Bin ich nicht viel zu schwer, um von der Liebe anderer getragen zu werden?
Paulus schreibt: „Gott hat uns gesalbt und uns seinen Siegel aufgedrückt. Dazu hat er uns den Heiligen Geist als Vorschuss ins Herz gegeben.“
Das ist so etwas wie die weihnachtliche Sonderprägung: Gott prägt mein Leben zwischen Grundverdacht und Grundvertrauen mit dem Weihnachtswunder. Weil er selber zum Leben kommt, kann ich das auch. Ich muss mich nur noch ein wenig gedulden. Vier Tage sind eine kurze Zeit.

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