Haben Sie den Sohn gesehen?

I. Tom schaut wieder und wieder auf den Fragebogen: „Haben Sie den Sohn gesehen?“ Was für eine Frage. Tom mustert die Menschen, die in der Fußgängerzone an ihm vorbeilaufen. Wer von denen wird anhalten, um darauf Antwort zu geben?
„Wir brauchen Sie – die kontaktfreudige Frau bzw. den kontaktfreudigen Mann, die bzw. der gern mehr wissen will!“ So hieß es in der Anzeige dieser Medienagentur: „star search & co.“ Er hatte sich vorgestellt und den Job bekommen.
Eine Straßenbefragung soll er machen. Nichts weiter, als ein paar Menschen befragen. Kein Problem, an sich. Wenn diese Frage nicht so merkwürdig wäre: „Haben Sie den Sohn gesehen?“
Tom atmet tief durch und hebt den Blick: Den ersten Passanten, der ihn ansieht, wird er ansprechen.

II. „Entschuldigung, haben Sie den Sohn gesehen?“ Der erste ist ein älterer Mann im Anzug und mit einer Zeitung unterm Arm.
Der Mann schaut Tom überrascht an. „Ach, Sie suchen ihren Sohn? Ist er ungefähr zwölf Jahre alt und trägt Jeans und einen roten, etwas verwaschenen Pullover?“
Jetzt ist Tom überrascht: „Nein, ich suche nicht meinen Sohn. Ich suche den Sohn. Für eine Fragebogenaktion.“
„Wie dem auch sei“, sagt der Mann. „Ich habe jedenfalls gerade diesen Jungen kennen gelernt. Ich wäre stolz, wenn ich sein Großvater wäre.“
Tom klickt an dem Kugelschreiber. „Ich kann's ja mal aufschreiben. Wo war das denn, dass Sie diesen Jungen getroffen haben?“
„Ich komme gerade von der Matinee unserer Kirchengemeinde. Da ging es heute um das ewige Leben. Sehr interessant, sage ich Ihnen.“
Tom zuckt die Schultern: „Aha?!“
Der Mann erzählt weiter: „Es gab einen Vortrag darüber, wie man sich das ewige Leben vorzustellen hat. Im sechzehnten Jahrhundert, in der altprotestantischen …“
Tom unterbricht den Mann: „Und da war auch dieser Junge?“
Der Mann schaut Tom erstaunt an: „Ach ja, der Junge. Der fiel mir gleich auf. Ich dachte noch: 'Sieh da, ein Konfirmand!' Als die Diskussion eröffnet war, hob der Junge als erstes die Hand und fragte: 'Und was habe ich in diesem Leben vom ewigen Leben?'“
Der Mann schaut Tom triumphierend an. Tom hört sich fragen: „Und wie lautet die Antwort?“
„Das ist noch bemerkenswerter. Es gab eine lebhafte Diskussion. Am Ende hob wieder der Junge die Hand: 'Also ich sage euch: Das ewige Leben beginnt schon hier und jetzt – dort, wo Gott in euer Leben tritt.'“
Tom klemmt den Kugelschreiber am Brett fest: „Na ja. Vielen Dank!“
Der andere Mann hebt den Zeigefinger: „Das müssen Sie sich vorstellen. Zwölf Jahre alt. Und dann so ein Satz: „Das ewige Leben beginnt schon hier und jetzt. – Na, denn. Auf Wiedersehen!“

III. Tom löst gerade die Blätter vom Klemmbrett, da wird er angerempelt. „Oh, Entschuldigung! Ich habe Sie gar nicht gesehen!“ Eine junge Frau steht vor ihm – leicht geschminktes Gesicht, dunkler Hosenanzug, in der Hand ein Smartphone.
Tom klemmt die Blätter wieder fest. „Bitte!“, sagt er. „Aber Sie können mir vielleicht eine Frage beantworten!“
Die Frau tippt auf ihr Smartphone und nickt: „Ja, wenn es nicht zu lange dauert.“
Tom klickt auf den Kugelschreiber: „Die Frage ist ganz einfach: Haben Sie den Sohn gesehen?“
Die Frau lacht. „Ist das ihr Ernst?“ Tom nickt und hebt gleichzeitig die Arme.
Die Frau fährt einige Male mit dem Zeigefinger über ihr Smartphone. „Dann schauen Sie mal hier. Sehen Sie die lila markierten Felder?“ Tom sieht sie. „An diesen Terminen ist dieser Junge Schuld“, sagt die Frau.
„Welcher Junge?“, fragt Tom
„Na, der Sohn“, entgegnet die Frau. „Der Junge, der von sich sagt, er sei der Sohn.“
Tom schaut die Frau an: „Und mit dem… Sohn … haben Sie Verabredungen?“
Die Frau schüttelt mit dem Kopf: „Nicht mit dem Sohn. Sondern wegen ihm.“
Tom blickt auf das Smartphone. „Das verstehe ich nicht.“
Die Frau erklärt es ihm: „Das ist ganz einfach. Von Montag bis Samstag. Jeweils um 12 Uhr. Dann läutet das Ding hier. Und ich weiß: Jetzt ist das Ding nicht dran und kein Termin und kein gar nichts.“
Tom setzt den Kugelschreiber an: „Dann treffen Sie sich jedes Mal mit dem Jungen, also dem Sohn?“
Die Frau lächelt: „Nein. Dann unterbreche ich meinen Tag für ein Gebet.“
Tom lässt die Hand mit dem Kugelschreiber sinken: „Ach so. Und was hat das mit dem Sohn zutun?“
„Was das mit dem Jungen zu tun hat? Ich bin in den hineingerannt, genauso wie eben in Sie“, sagt die Frau. „Vorgestern war das. Der stand da einfach. Mitten in der Fußgängerzone. Hatte die Augen geschlossen und die Arme ausgebreitet.“
Tom klickt am Kugelschreiber: „Die Arme ausgebreitet?“
„Ja“, sagt die Frau, „ der hat gebetet. Mitten am Tag, mitten in der Fußgängerzone.“
Tom zeigt auf das Smartphone: „Und was hat das mit Ihren Termineinträgen zutun?“
Die Frau schaut ebenfalls auf ihr Smartphone: „Ich habe den Jungen angefaucht: 'Was machst du denn da!' Und er hat geantwortet: 'Ich bete.' Und dann nahm er meine Hand und murmelte etwas, das mir bekannt vorkam. Bis ich merkte: Das ist das Vaterunser. Und dann habe ich mitgebetet.“
Tom muss lachen: „Das Vaterunser? Mitten am Tag? In der Fußgängerzone?“
Die Frau lacht auch: „Ja doch! Ich konnte nicht anders. Es war, als würde ich mitten am Tag einen kleinen Happen von der Ewigkeit schmecken. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Tom schüttelt den Kopf: „Ach, wissen Sie, beten …“
Die Frau steckt ihr Smartphone in die Handtasche: „Schade, Sie sollten es versuchen. Ich jedenfalls will das jetzt tun. Jeden Tag, immer in der Mittagspause. Ein Vaterunser und einen kleinen Happen Ewigkeit. Deswegen die lila Markierungen im Kalender. Lila wie beten. – Aber jetzt muss ich weiter. Schönen Tag noch.“

IV. „Was verteilst'n du hier? Das ist meine Ecke!“ Jemand tippt Tom auf die Schulter. Er dreht sich um und schaut in ein unrasiertes Gesicht. Er tritt einen Schritt zurück: Der Mann hält einen Stapel Zeitungen in der Hand. „Das Straßenblatt“ steht im Titel.
Tom zeigt auf das Klemmbrett: „Ich verteile nichts. Ich mache eine Umfrage.“
Der Zeitungsmann schaut auf die Blätter. „So einer biste. Armes Schwein. Was willste'n wissen?“
Tom schaut auch auf seine Blätter. „'Haben Sie den Sohn gesehen?' – Das soll ich fragen.“
„Soso“, sagt der Mann. „Willste auch von mir 'ne Antwort?“
„Wenn Sie eine haben!“ Tom nickt.
„Also“, sagt der andere. „Gestern war das. Da stand plötzlich einer vor mir. Ein Junge. Vielleicht elf oder zwölf Jahre. Der steht also vor mir und sagt: 'Komm mit mir. Ich brauche dich!' Und ich, ich gehe mit dem.“
Tom schaut den anderen an: „Und was wollte der?“
Der Zeitungsmann blickt an Tom vorbei: „Nichts Großes. Ich sollte ihm was helfen. Ein paar Kisten tragen. Tische räumen.“
Tom fragt nach: „Das war alles?“
„Nein“, sagt der andere, „das Entscheidende kommt erst. Als wir fertig sind, sagt der zu mir: 'Setz' dich!' Dann fängt der an, den Tisch zu decken. Zwei Teller, zwei Tassen. Brot und Butter. Wurst und Käse.“
Tom blickt den Zeitungsmann an: „Er hat dich zum Abendbrot eingeladen?“
„Ja“, sagt der Mann. „Wir haben gegessen. Und ich habe erzählt. Mein ganzes Leben. Ich dachte: Das kannst du ihm erzählen. Der weiß das ohnehin schon alles.“
Tom schaut auf seine Notizen: „Das war's!?“
Der Zeitungsmann nickt: „Was soll ich dir sagen: Das war das leckerste Abendbrot meines Lebens. Es kam mir vor wie ewig, dass wir zusammen da saßen. Aber plötzlich war der Junge weg. Verschwunden …“ Nach einem Augenblick fügt er hinzu: „Aber jetzt, wo ich davon erzähle, wird mir wieder so, so … satt und warm. Nur vom Erinnern. Merkwürdig, oder?“
Tom murmelt für sich: „Ein kleiner Happen Ewigkeit!“ Der Zeitungsmann hält ihm „Das Straßenblatt“ hin: „Hier. Für dich. Zwei Euro bekomm' ich dafür. Und dann such' dir einen anderen Platz für dich und deinen Fragenbogen.“

V. „Entschuldigung!“ Eine Frauenstimme schreckt Tom auf. Vor ihm stehen eine Frau und ein Mann. Sie hält ihm ein Foto hin: „Haben Sie unseren Sohn gesehen?“
Tom schaut erst die Frau an, dann den Mann. Schließlich blickt er auf das Foto. Er sieht das Porträt eines Jungen, vielleicht zwölf Jahre.
Die Frau sieht ihn forschend an: „Haben Sie ihn gesehen? Wir haben ihn verloren. Hier in der Fußgängerzone. Vor drei Tagen.“
Der Mann setzt fort: „Es ist eine blöde Geschichte. Wir dachten, er würde mit seinem Onkel und seiner Tante …“
Tom unterbricht ihn: „Jeans? Roter Pullover?“
„Ja“, sagt die Frau. „Ja, das ist er! Das ist er bestimmt! Haben Sie ihn gesehen?“
„Nein“, sagt Tom, „das nicht. Aber ich habe von ihm gehört. Ich glaube, ich weiß, wo er sein könnte. Kommen Sie mit, wir gehen hin. Ich möchte ihn auch gern finden, diesen … ihren Sohn.“

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