Ein Augenblick

Es war einmal irgendwo eine Kirchengemeinde, der ging es schon einmal besser. Vor gar nicht allzu langer Zeit waren die Kirche sonntags voll und die Gottesdienste fröhlich. Irgendwann aber verlor sich nur noch ein trostloses Häuflein in der viel zu großen Kirche und sang ganz zaghaft.
Da kam eines sonntags ein Fremder vorbei. Er schaute sich alle einzeln an, die verloren in den Kirchenbänken saßen. Schließlich sagte er: „Einer von euch ist der Messias – verkleidet – und ihr merkt es nicht.“
Als er das gesagt hatte, drehte er sich um und verließ die Kirche. Die Menschen blieben ohne ihn zurück und schauten sich um. Einer von denen ist also der Messias. Der Mensch, in dem Gott zu ihnen kommt. Aber wer?
Vielleicht die Frau, die immer auf den letzten Drücker zu ihrem Platz schleicht? Oder die Konfirmanden, die tuscheln, statt zu singen?
Der Küster womöglich, der ist ja schließlich immer da und oft genug mit Gott allein in der Kirche. Oder die Organistin, die manchmal so spielt, als wären die Stücke nicht von dieser Welt.
Aber wahrscheinlich doch eher einer von den Urlaubern. Die kennt man ja nicht. In denen könnte sich am ehesten der Messias unerkannt verstecken.
Da saßen die Leute also in ihren Kirchenbänken und schauten sich um. Und jeder, den sie anschauten, verwandelte sich unter ihren Blicken.
Er verlor die Gesichtszüge, die ihn sonst auszeichneten. Die Spuren der Woche, die dort für gewöhnlich zu sehen waren, verwischhen. Die Sorgenfalten glätteten sich. Die Sonntagmorgenmüdigkeit verschwand.
Die Gesichter begannen zu leuchten. Lachte aus ihren Mundwinkeln einem nicht die Lebensfreude entgegen? Sagten seine freundlichen Blicke nicht: Gut, dass ausgerechnet du heute Morgen da bist?
Ja, du könntest der Messias sein. Und selbst, wenn du es nicht bist: In deinem Gesicht kann ich etwas entdecken, das mehr ist, als du bist. Ich schaue dich an und ich sehe: Wir sind nicht allein. Da ist immer einer, der dich anschaut. Freundlich, segensreich.

Heute ist der Abschluss der InselBibelWoche. An drei Abenden kamen wir zusammen. Jeweils ein Dutzend Menschen saß erst an einem Tisch und aß gemeinsam. Und wechselte dann in einen Kreis, um aus einer Bibelgeschichte und voneinander etwas zu lernen über den Glauben.
„Bist du es?“ So lautete die Frage, die uns begleitet hat.
Am ersten Abend hier in Nieblum war das die Frage, die Johannes der Täufer an Jesus stellen lässt. Bist du es, der kommen soll – oder müssen wir auf einen anderen warten?
Jesus antwortet auf diese Frage weder mit Ja noch mit Nein. Sondern: Sagt weiter, was ihr hört und seht: Lahme gehen, Blinde sehen, Taube hören, Aussätzige werden rein. Hier ist einer, der seinen Segen ausschüttet über Menschen.
Und wir haben das getan: Von dem Segen erzählt, den wir erfahren haben. Wie eine getröstet wurde, wo sie doch eigentlich untröstlich war. Wie einer eine Last von der Schulter genommen wurde, von der sie dachte, die müsste sie alleine tragen.
Der zweite Abend in Süderende knüpfte beim Segen an: Selig seid ihr – so fängt Jesus seine Bergpredigt an. Selig seid ihr, auch wenn euer Leben gar nicht danach aussieht.
Wir haben uns gefragt, ob das eine Vertröstung ist oder ein Trost. Und wussten wieder zu erzählen von Augenblicken, in denen sich das Herz weitet vor Lebensglück und wir uns überreich beschenkt fühlen. Was für ein Trost.'
Wohl wissend, dass es nur Augenblicke sind, in denen wir selig sind. Wir können sie nicht festhalten. Aber die Fülle, die in ihnen steckt, nährt die Hoffnung: So ein Zustand der Gnade kommt wieder.
Um solch einen Augenblick ging es am dritten Abend in Wyk. Petrus steht im schwankenden Boot und sieht Jesus auf dem Wasser und fragt: Bist du es? Komm!, antwortet Jesus. Und Petrus steigt aus dem Boot und geht über das Wasser auf ihn zu.
Nur ein Augenblick. Aber einer, der sich endlos dehnt. Weil das Leben trägt, weil der Glaube trägt. Ein Gefühl, als ginge ich über Wasser.
Wir haben den Ort gesucht, an dem wir in dieser Geschichte stehen. Am sicheren Ufer? Im schwankenden Boot? Oder mitten auf dem Wasser, Schritt für Schritt auf Jesus zu? Bist du es, der mich hält?

Wer bei allen drei Abend dabei ist, hatten wir vorher etwas waghalsig angekündigt, entdeckt einen roten Faden. Für mich habe ich einen gefunden. In der Frage, die Johannes und Petrus stellen: Bist du es, Jesus?
'Erstaunlich, dass die beiden das fragen. Sie sollten es doch eigentlich wissen. Der Vorläufer Johannes, der Jesus getauft hat. Und der Nachfolger Petrus, den Jesus zu seinem Stellvertreter gemacht hat.
Aber sie wussten es nicht. Sie mussten nachfragen. Oder anders: Sie wussten es wohl. Aber sie mussten es noch einmal erfahren. Und noch einmal. Und noch einmal.
Darin fühle ich mich ihnen nah. Ich glaube – und das heißt: ich bin überzeugt und ich vertraue. Aber ich kann nicht einfach so glauben. Ich brauche gute Gründe.
Ich brauche Augenblicke, die mich glauben machen. Augenblicke, die ich erlebe und von denen ich danach erzählen kann.
Vielleicht war sogar das der eigentliche rote Faden der InselBibelWoche: Dass wir genau das getan haben – uns von unserem Glauben zu erzählen und von den Augenblicken, die ihn ausmachen. Von den Augenblicken, in denen es die Antwort gibt auf die Frage: „Bist du es, Jesus?“

Wie diese Augenblick aussehen und wo wir sie finden – dafür legt Jesus noch eine ganz andere Spur.
Ihr wisst es doch längst, sagt er: „Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich als Gast aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mir Kleider gegeben. Ich war krank, und ihr habt euch um mich gekümmert. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.“ (Matthäusevangelium 25, 35 – Lutherbibel 2017)
Die Spur, die Jesus legt, führt von ihm weg. Sie führt weg von den heiligen Augenblicken, in denen wir in der Kirche oder im Watt oder in der Marsch mit Gott und uns allein sind.
Sie führt weg vom Gebet und der Zwiesprache mit Gott. Als ginge es gar nicht um Gott, wenn es um Gott geht. Als würden wir Jesus gar nicht finden, wenn wir ihn suchen.
Jesu Antwort führt zum Nächsten. Zum Menschen neben dir, neben mir. Als müssten wir ihn gar nicht erst lange suchen. Weder den anderen noch Jesus.
Als müssten wir nur die Augen öffnen und den Kopf heben und dem ersten Menschen ins Angesicht schauen, der uns begegnet. Und schon sehen wir ihn. Den anderen. Und Jesus.
Wenn wir ihn sehen. Dass wir es tun, daran entscheidet sich, ob wir Menschen sind. Daran entscheidet sich auch, ob wir Gott hineinlassen in unser Leben.
Es geht um den Augenblick. Den kurzen Augenblick, in dem sich die Blicke treffen, vom anderen und von mir.

Die Mutter ist gestorben. Nach einem erfüllten Leben, am Ende einer Demenz, als er und alle Kinder an ihrem Sterbebett versammelt waren. Ein Tod, auf den seine Mutter gewartet hat und mit dem auch er einverstanden ist.
Die Trauer macht das nicht kleiner. Eine Geschichte ist zu Ende gegangen. Jetzt gibt es nur noch Erinnerung. Das muss ich ihr erzählen, fängt der Gedanke an und bricht jäh ab. Sie ist ja nicht mehr da.
Sie liegt in dem Sarg, hinter dem er jetzt aus der Kirche zieht. Zwischen den voll besetzten Kirchenbänken hindurch. Das halbe Dorf ist gekommen, weil es sich gehört. Die Freunde, weil es ihnen wichtig ist.
Er hebt den Blick vom Sarg auf. Er sucht nach den Gesichtern der Menschen, an denen er vorbei zieht. Leere Blicke, starr auf den Boden gerichtet. Als wäre da kein Sarg. Als ginge er gar nicht vorbei.
Da: Ein Augenpaar, das ihn anschaut. Er sieht, wie es feucht glänzt. Er sieht das leise Lächeln. Er spürt, wie eine Träne durch sein Gesicht läuft und es sich kurz entspannt.
Ein Augenblick nur. Aber er weiß: Der andere hat mich gesehen. Er teilt mein Leid, auch wenn es nicht seines ist. Er schenkt mir Trost. Er schenkt mir einen freundlichen Blick.

Senke ich den Blick, wende ich ihn ab? Überlasse ich den anderen sich selber? Oder halte ich dem Blick stand?  Erwidere ich seinen Blick? Und andersherum: Öffne ich mich für den Blick des anderen? Lasse ich ihn hineinschauen in mein Leben, in meine Seele? Schaue ich ihn an und zeige ihm, wie es mir geht?
Wenn sich die Blicke treffen, ereignet sich ein Augenblick. Ein gefüllter Augenblick, der verbindet. Zwei Menschen, die sich einander anvertrauen.
Ganz ohne Worte womöglich. Nur über einen Blick, der sagt: So geht es mir. Und einen Blick, der antwortet: Ich sehe dich. Wo die Blicke sich treffen, ereignet sich der Augenblick.
Eine gefüllte Zeit, in der die, die sich anschauen und sehen, zu dritt sind.
Die Augen Jesu, die mir aus den Augen des anderen entgegen blicken. Ein Blick, der mich anlächelt. Mich versteht. Mich annimmt. Mir Mut macht. Mich segnet.
Die Augen Jesu, mit denen ich den anderen anschaue. Ein Blick, der in dem anderen einen sieht, dem Gott sich zuwendet. Auf dem Gottes Segen ruht wie mein Blick. Leicht und freundlich.
Zwei Blicke, die einander anschauen und mehr sehen und mehr zeigen als sich selber.
Bist du es?, fragen sie. Der andere ist der Messias, sagen sie: Was ihr für einen eurer Brüder oder eine eurer Schwestern getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend sind –, das habt ihr für ihn getan.

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