Manchmal stehen wir auf

"Manchmal stehen wir auf / Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage / Mit unserem lebendigen Haar / Mit unserer atmenden Haut" (Marie Luise Kaschnitz).

Es gibt Leute, die sagen: Frühling ist wie auferstehen. Der weckt die Lebensgeister und macht das Gemüt sonniger und die Schritte leichter und den Alltag bunter.
Paulus sagt: Auferstehen ist wie Frühling. 
„Wenn jemand zu Christus gehört, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, etwas ganz Neues hat begonnen“ (2. Korinther 5,17).
Im Frühling wird etwas neu. Wer zu Christus gehört, wird neu. Wer aufersteht, im Frühling, durch Christus, wird neu.

Maria, zum Beispiel, sitzt auf der Bank und blinzelt in das Frühlingslicht. Die Luft ist ein wenig kühl. Das Holz der Bank fühlt sich warm an. Was für ein Urlaubstag.
Die Osterglocken leuchten gelb, die Buschwindröschen legen einen weißen Teppich über die Wiese. An manchen Bäumen leuchtet das erste Grün. Kleine Blätter, die darauf warten, sich ganz zu entfalten.
Maria steht auf und geht zur Magnolie. Als ihre Urlaubswoche begann, steckten die Blüten noch in ihren dunkelgrünbraunen Hüllen. Tag für Tag haben sie sich daraus hervorgeschoben. Erst leuchtend weiß, jetzt färben sie sich rosa.
Wie lange werden sie brauchen, bis sie aufblühen?

Tobias, auch zum Beispiel, fährt mit dem Fahrrad durch die Marsch. Er mag das, wenn sich das Grün um ihn und das Blau über ihm weitet.
Er scheucht ein Paar Stockenten aus dem Graben auf, als er an ihnen vorbei fährt. Die Rehe schauen ihn aufmerksam an, er stört sie nicht. Der Hase duckt sich in das Grün. Die Austernfischer tanzen laut schimpfend über ihm.
Das Fahren strengt heute gar nicht an. Es geht nur ein leichter Wind. Dort, wo sie die Weiden am Wegesrand haben stehen lassen, staut sich fast sommerliche Wärme.
Hier und da weht ihm eine Brise Gülle in die Nase. Sie ist gleich wieder verweht. Er riecht von neuem den Frühling.

Maria kommt aus einem langen Winter. Sie hat sich um ihren Vater gekümmert. Im Herbst legte er sich zum Sterben. Er begann zu warten und sie mit ihm.
Zuhause wollte er sterben. Den Wunsch wollte sie ihm erfüllen. Sie ließ sich beurlauben und zog zu ihm. Zurück in das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Zurück in die Kindheit.
Nur dass die Rollen jetzt vertauscht waren. Ihre Mutter war schon vor ein paar Jahren gestorben. Und ihr Vater nicht mehr in der Lage, sich zu kümmern.
Das tat sie jetzt. Waschen, anziehen, mit ihm essen. An seinem Bett sitzen und auf seinen Atem hören, während er schlief. In der Nacht aufschrecken und nachschauen, ob er noch atmete.
Es kostete sie Kraft und es fiel ihr leicht. War ihr Vater wach, saß sie an seinem Bett. „Weißt du noch?“, fragte sie ihn. Und er wusste noch, wie sie als Kind neben ihm in der Werkstatt gestanden und geschnitzt hatte, während er irgendetwas heil machte. Das konnte nur er so gut: Etwas ganz machen.
Die Kindheit wurde wieder lebendig, weil sie sich von ihr verabschieden musste. Wenn deine Eltern sterben, so hatte sie schon beim Tod ihrer Mutter gedacht, stirbt auch deine Kindheit.
So trauerte sie um ihren Vater, als er schließlich einschlief. Eines Morgens, als sie gerade von seinem Bett aufgestanden war, um sich einen Kaffee zu kochen. Und sie weinte um das Gefühl, Kind zu sein, das mit ihm gegangen war.

Tobias Leben ist im letzten Jahr erstarrt. An dem Tag, an dem Simone ihm sagte, sie habe einen anderen. Sie müssten sich trennen. Sie würde zu dem anderen ziehen.
Hast du das nicht gemerkt, dass da ein anderer war?, haben seine Freunde ihn gefragt. Nein, er hatte nichts geahnt, nichts befürchtet. Vielleicht zeigte gerade das, warum es so kam, wie es kam.
Es lief doch alles, wie es immer lief, hatte er gedacht und gemacht, was er meinte machen zu müssen. Und vergessen, auf Simone zu schauen.
Hätte er sie nur einmal angeschaut, dann hätte er in ihren Augen die Traurigkeit gesehen und das Leuchten, wenn sie von dem anderen kam.
Wie gut, dass ihr keine Kinder habt, haben seine Freunde zu ihm gesagt. Aber er konnte daran nichts Gutes finden. Sie hatten es doch versucht. Vergeblich versucht.
Irgendwann hatten sie die Hoffnung aufgegeben. Ohne miteinander darüber zu reden. Woran es lag. Was nun werden sollte. Sie hatten sich beide in ihrem eigenen Schmerz vergraben. Wortlos.
Jetzt haben sie sich getrennt. Auch wortlos. Simone mochte nicht streiten. Sie war zu verliebt, zu glücklich mit dem anderen. Wir können doch Freunde bleiben, sagte sie.
Er konnte nicht streiten, konnte es noch nie. Immer, wenn er sich hätte streiten müssen, fehlten ihm die Worte. Der Kopf leerte sich. Das Denken und Fühlen erstarrte.

Maria sitzt in der Kirche. Der Sonnenschein fällt durch die hohen Fenster und tanzt über die Bodenplatten vor ihr. Die Frühlingsgeräusche sind vor der Kirche geblieben.
Hinter einer Tür klappert es leise. Da werden wohl der Küster oder die Küsterin etwas für den nächsten Gottesdienst vorbereiten, denkt sie.
Ansonsten ist sie allein in der Kirche. Allein mit sich und ihren Gedanken. Sie sieht wieder ihren Vater vor sich. Er liegt im Bett. Gerade ist er gestorben. Alles Angestrengte ist aus seinem Gesicht verschwunden. Weich sieht er aus und zufrieden.
Wir legen sein Leben in Gottes Hände.“ Hatte der Pastor das so gesagt am Grab? Sie weiß noch, wie sich alles in ihr dagegen wehrte. Sie wollte ihren Vater nicht aus ihren Händen geben. Und auch nicht ihre Kindheit.
Sie steht auf und tritt vor den Altar. Da sitzt eine Figur. Ein Christus. Er trägt dieselben Gesichtszüge wie ihr Vater, als er gestorben war. Wie einer, der alles geschafft hat. Der seinen Frieden gefunden hat.
Da fühlt sie diesen Frieden auch. Wie ein warmer Tropfen fällt er in ihre Mitte und platzt dort auf und breitet sich immer weiter in ihr aus.
Ihr kommt es so vor, dass der Christus seinen Frieden mit ihr teilt. Er nimmt sie hinein in das Gefühl, dass schon alles getan und vollbracht ist. In die Gewissheit, dass alles gut aufgehoben ist. Auch ihr Vater. Auch ihre Kindheit.
Da steht sie, im selben Augenblick ganz leer und ganz gefüllt.

Tobias hat sein Fahrrad abgestellt und steigt den Wall der Lembecksburg hinauf. Dort oben schaut er sich um. Hier ist die Weite besonders weit.
Tobias hält das Gesicht in den leichten Wind. Freiheit weht ihm um die Nase. Die Freiheit, sich hierhin oder dorthin zu wenden, diesen oder jenen Weg zu gehen. Er muss sich nur bewegen, sich aus der Erstarrung lösen.
Der Alltag, denkt er, war so verlockend, weil er vertraute Wege bot. Wenn ich immer denselben Weg gehe, finde ich mich zurecht.
Aber wenn ich immer denselben Weg gehe, sehe ich irgendwann auch gar nicht mehr, wie besonders er ist. Ich verliere den Blick für seine einmalige Schönheit.
So war es ihm ergangen. Ihm und Simone. Sie hat schon einen neuen Weg gefunden. Er muss sich seinen jetzt suchen. Am Fuß der Lembecksburg wartet er auf ihn.
Er will die Augen offen halten, um diesen Weg zu finden. Und dann auf diesem Weg das Herz wach halten. Um aufmerksam zu sein für das, was ihm begegnet.
Wie Fingerzeige stehen die drei Föhrer Kirchtürme in der Landschaft. In den Himmel zeigen sie. Schau auf deinem Weg nicht nur vor dich, sagen sie. Schau auch auf den Himmel, der sich über dir wölbt.
Mit jedem Schritt, den du gehst, wölbt er sich weiter über dir. Er spannt sich über dir, wohin du auch gehst.
Tobias dreht sich noch einmal um sich selbst, dann macht er den ersten Schritt unter diesem weiten Himmel.

Maria sitzt an der warmen Hauswand und freut sich an ihrem Eis. Eine große Kugel Vanille mit Streusel, wie sie es als Kind immer aß.
Sie schaut in die Nachmittagssonne und lehnt sich zurück und streckt die Beine von sich. Jetzt wird sie ihn genießen, den Urlaub. Wenn sie dann nach Hause zurückkehrt, fängt sie neu an. Mit der Arbeit, dem Alltag, dem Leben.

Tobias lehnt sein Fahrrad gegen den Zaun. Er geht über die Straße und reiht sich in die Schlange vor dem Eisladen ein. Heute stört ihn das Warten nicht. Er hat noch die ganze Weite vor sich, die er von der Lembecksburg aus gesehen hat.
Neugierig sieht er die Menschen an, die auf den Stühlen und im Strandkorb sitzen: Wie mag deren Leben aussehen?
Eine Kugel Haselnuss und eine Kugel Schokolade nimmt er sich. Mit dem Eis in der Hand tritt er vor den Laden. Auf der Bank neben der Tür wird gerade ein Platz frei.
Darf ich mich setzen?“, fragt er die Frau, die dort noch sitzt.

Und Maria lächelt und antwortet: „Ja, gern!“

Manchmal stehen wir auf / Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage / Mit unserem lebendigen Haar / Mit unserer atmenden Haut.“

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