Kleiner großer Glaube
I.
Jeder, der aus Gott geboren ist, siegt über die Welt. Und so klingt
einer, der siegt:
Hört
mich, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, gebt acht! Schon im
Mutterleib hat der HERR mich berufen, im Schoß meiner Mutter schon
meinen Namen genannt.
Und
wie ein scharfes Schwert hat er meinen Mund gemacht, im Schatten
seiner Hand hält er mich verborgen, und zu einem spitzen Pfeil hat
er mich gemacht, in seinem Köcher hat er mich versteckt.
So
klingt ein Sieger. Ich höre seine Worte (aufgeschrieben im zweiten
Teil des Jesaja-Buches) und sehe ihn vor mir.
Er
steht irgendwo in der späten Nachmittagssonne auf einem Marktplatz.
Menschen umringen ihn und hängen an seinen Lippen.
Noch
bevor sie seine Stimme hören, wissen sie schon, dass er ihnen Worte
sagen wird, die ihr Herz bewegen. Er verkörpert die Wahrheit, die
ihr Leben trifft und verändert.
Und
er, er spürt das. Er spürt, was die Menschen von ihm erwarten. Er
spürt auch, was sie ihm zutrauen. Er steht dort in ihrer Mitte und
nimmt das alles in sich auf.
Er
hat einen Auftrag. Der kommt von den Menschen, die ihn umringen, und
lautet: Mache uns Hoffnung, weise uns den Weg, tröste unsere Herzen.
Er
hat einen Auftrag. Der kommt von Gott, der ihn dort hinstellt, auf
den Platz, zwischen die Menschen. Er wird ihnen etwas sagen, was sie
selber sich nicht sagen können.
Fremde
Worte wird er ihnen sagen. Worte, die hoffentlich trösten und
aufbauen und gut tun. Vielleicht aber auch Worte, die vor den Kopf
schlagen und verstören und weh tun.
Er
wird ihnen sagen, was sie unbedingt angeht. Das ist sein Auftrag.
Das, was die Menschen hören wollen. Das, was Gott ihm in den Mund
legt.
Wer
dieser Mensch ist, der wie ein Sieger klingt, bleibt im Jesaja-Buch
offen.
Die
ersten Christen haben Jesus vor sich gesehen, wenn sie dessen Worte
hörten. Den Jesus, der auf einen Berg steigt und zu den Menschen
spricht. Der in den Tempel geht und mit den Schriftgelehrten
streitet.
Ich
aber sage euch, sagt dieser Jesus. Liebt eure Feinde. Gott gibt euch,
was ihr braucht. Gebt alles für Gott. Selig seid ihr. Worte, die
sich keiner selber sagen kann. Aber wer sie hört, dem verändern sie
das Leben.
Die
Menschen, die zuerst die Worte aus dem Jesaja-Buch aufschrieben,
taten das womöglich mit einer Sehnsucht. Mit der Sehnsucht nach
einem, der so in ihre Mitte tritt.
Mit
der Sehnsucht nach einem, der mit seinen Worten eine Tür
aufschließt. Eine Tür in ihrem Herzen, durch die Gott tritt, damit
sie wieder glauben, hoffen und lieben können.
Von
mir selber kenne ich beides: Das Sehnen, mit dem ich darauf warte,
dass mir einer das eine Wort sagt, das ich mir selber nicht sagen
kann. Das mein Herz berührt.
Und
die Erfahrung, dass der Eine dieses Wort längst zu mir gesprochen
hat: Dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen.
II.
Doch
auch der, der siegt, ist nicht immer siegesgewiss. Und ein Sieger
klingt nicht immer wie ein Sieger:
Und
der HERR sprach zu mir: Du bist mein Diener, [...] an dir werde ich
meine Herrlichkeit zeigen.
Ich
aber sprach: Vergeblich habe ich mich abgemüht, für nichts und
wieder nichts meine Kraft verbraucht. Doch mein Recht ist beim HERRN
und mein Lohn bei meinem Gott.
So
klingt ein Sieger, der an die eigene Niederlage glaubt. Der sie
womöglich gerade erlebt. Ich sehe ihn wieder vor mir.
Er
ist allein. Die Sonne ist gerade hinter der Bergkuppe verschwunden,
Schatten legen sich auf den Marktplatz. Die Menschen, die ihn eben
noch umringten, sind verschwunden.
Er
hat sie enttäuscht. Was er ihnen zu sagen hatte, war nicht, was sie
hören wollten.
Er
hat mit seinen Worten auf ihr Herz gezielt und erreichte nicht einmal
ihren Kopf. Seine Worte fielen auf den Boden. Dann kam der Wind und
zerstreute sie wie Herbstblätter.
Woran
lag es? Daran, dass sie nicht bereit waren, auf etwas zu hören, das
nicht das war, was sie hören wollten?
Daran,
dass er es nicht so sagen konnte, dass sie es hören konnten? Nicht
warm genug, nicht begeistert genug?
Oder
waren es die falschen Worte? Ist das, was Gott ihm in den Mund legt,
so fremd, dass es keiner verstehen kann und am Ende niemand hören
will?
Mit
seiner Aufgabe, der er nicht gewachsen scheint, ist er am Ende.
Vielleicht auch mit den Menschen, die ihm erst an den Lippen hängen
und sich dann von ihm abwenden.
Aber
an seinem Gott hält er fest. Will er festhalten. Muss er festhalten.
Sonst hat er wirklich verloren.
In
diesem Menschen, der sich scheitern sieht, erkannten die ersten
Christen Jesus. So erzählten sie seine Geschichte: Mit seinen Worten
stößt er von Anfang an auf taube Ohren und Menschen vor den Kopf.
Am
Ende sehen sie Jesus gescheitert. Am Kreuz, draußen vorm Tor. Von
den einen verhöhnt, von den anderen verleugnet. Und Jesus selber
ruft nach Gott. Vergeblich.
Ein
Rufen gegen den Wind. Auch für die, die zuerst die Worte aus dem
Jesaja-Buch aufschrieben. Vergeblich die Sehnsucht. Umsonst das
Hoffen.
Das,
worauf sie warten, kommt nicht. Keine Rückkehr der guten alten
Zeiten. Kein Anbruch einer schönen neuen Welt. Nur derselbe Alltag,
einer nach dem anderen. Grau und mittelmäßig.
Sollte
mein Glaube etwas ändern? Bleibt nicht alles gleich, ob mit oder
ohne Glaube? In dieser Welt? In meinem Leben?
Die
Arroganz der Macht holzt weiter Wälder ab und hält an Posten fest.
Krieg und Armut schlagen in die Flucht und der Hass jagt durch die
Straßen.
Und
ich selber bleibe ungeduldig mit anderen, auf mich selber bedacht,
arbeite, ohne zu beten.
Dabei
ist das Gebet doch der Anker, der mich im Glauben hält. Das Band,
das mich verbindet – mit anderen, mit Gott.
III.
Manchmal
wird die Niederlage zum Sieg. Manchmal ist die Niederlage ein Sieg.
So klingt einer, der trotzdem gewinnt:
Nun
aber hat der HERR gesprochen, der mich schon im Mutterleib zum Diener
gebildet hat für sich […]:
Zu
wenig ist es, dass du mein Diener bist, um die Stämme Jakobs
aufzurichten und die von Israel zurückzubringen, die bewahrt worden
sind: Zum Licht für die Nationen werde ich dich machen, damit mein
Heil bis an das Ende der Erde reicht.
So
klingt einer, der in der Niederlage den Sieg geschenkt bekommt. Und
ihn erkennt. Ich sehe ihn vor mir.
Er
steht noch auf dem Marktplatz. Das letzte Sonnenlicht ist
verschwunden. Dafür blinkt über ihm der Abendstern.
Er
schaut hinauf. Den Hals in den Nacken gelegt, dreht er sich Schritt
für Schritt im Kreis. Immer mehr Sterne zeigen sich ihm. Oder ist er
es, der immer mehr Sterne sieht?
Die
Sterne und der Himmel über ihm fügen sich zu einem Bild. Der Himmel
ist weit. Weiter als sein Blick reicht. So weit reicht Gottes Gnade.
Weiter als der Marktplatz, auf dem er steht. Weiter als das Leben,
das er führt.
Die
Sterne blinken in dem weiten Himmel. Manche strahlen auf den ersten
Blick. Andere sieht man erst, wenn man länger hinschaut. Und wieder
andere leuchten ganz verborgen.
So
ist das mit ihm. So ist das mit den Menschen, auf die Gottes Licht
fällt. Er leuchtet, sie leuchten. Manche still und leise. Andere
hell und strahlend.
Und
egal, wie sie leuchten: Gottes Licht fällt auf sie. Und es strahlt
von ihnen wieder. Mal stärker, mal schwächer. Aber immer ist da ein
Leuchten in der begnadeten Weite.
Den
Gott trotz zum Licht der Nationen ernennt – die ersten Christen
erkannten in ihm den Christus. Der aus der Niederlage aufsteht mit
der Siegesfahne in der Hand. Das Licht der Welt, das im dunklen Tod
aufscheint.
Gott,
der die Niederlage in einen Sieg verwandelt. Weil Siegen etwas
anderes heißt als Besiegen. Und Leuchten etwas anderes als Blenden.
Das
haben wohl auch die verstanden, die zuerst die Worte aus dem
Jesaja-Buch aufschrieben. Gottes Gnade gilt nicht dem Einen, ob nun
Volk oder Mensch. Sie gilt den Allen, ob nun Menschen oder Völker.
So
weit ist diese Gnade, dass alle unter ihrem Himmel einen Platz
finden. Weiter ist sie als die Grenzen, die Menschen stecken mit
ihren Ländern, Sprachen, Glaubensweisen.
Und
ich verstehe, dass Gott alle Menschen braucht. Nicht nur den Einen,
sondern alle und jeden ganz besonders.
Mit
der Sehnsucht, die jede in ihrem Herzen birgt, und den Worten, die
jeder auf der Zunge trägt.
Mit
dem kleinen großen Glauben, der an Gott festhält. Auch dann, wenn
alles gegen die Sehnsucht spricht und Worte wie Schall und Rauch
verfliegen.
Der
kleine große Glaube, der an Gott festhält. Und daran, dass Gott
etwas vorhat mit dieser Welt und jedem einzelnen Leben.
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