Rosa Morgen


I

Rosa hatte geträumt. Das wusste sie, als sie aufwachte. Aber mit jeder Minute, die sie wach war, verblasste ein Stück des Traums. Sie versuchte, ihn festzuhalten.
Von einem Mädchen hatte sie geträumt. Es trug eine Krone, wie Prinzessinnen sie tragen. Schmal und spitz. Aus Gold, mit Edelsteinen besetzt.
Da war auch ein Gespenst in dem Traum. Es schwebte aus der Wand auf das Mädchen zu und wollte ihm die Krone vom Kopf reißen.
Das Mädchen duckte sich, das Gespenst griff ins Leere. Das Mädchen sprang auf und lief vor dem Gespenst davon. Mit beiden Händen hielt es die Krone fest: „Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!
So plötzlich, wie es nur in Träumen geschieht, war das Gespenst verschwunden. Das Mädchen fand sich allein, in einem großen Saal, auf einem hohen Thron. Seine Krone hielt es vor sich und betrachtete sie von allen Seiten.
Was mochte das für eine Krone sein? Bei dieser Frage hatte der Wecker geklingelt und Rosa war aufgewacht. Sie ärgerte sich, dass – wie so oft – der Traum abbrach, bevor die entscheidende Frage beantwortet war.
Sie stand auf und ging ins Bad. Während sie unter der Dusche stand, dachte sie weiter über den Traum nach.
Die Furcht ging ihr nach, die sie gespürt hatte, als das Gespenst auftauchte. Die Krone und das Mädchen waren in Gefahr.
Noch stärker spürte sie die Freude und den Stolz, den das Mädchen empfand, als es auf dem Thron die Krone betrachtete. Alles schien da richtig und gut, so wie es war.

II

Frisch geduscht, noch mit feuchten Haaren, saß Rosa am Frühstückstisch. Es duftete nach frisch aufgebackenen Brötchen.
Dass ihre Oma sich das nicht nehmen ließ. So oft hatte sie ihr schon gesagt: „Du musst das nicht tun, Oma. Ich esse auch Brot.“ Aber jedes Mal hatte Oma geantwortet: „Ach, Mädchen, ich mach das doch gern.“
Jeden Morgen stand die Oma eine Stunde vor ihr auf und zauberte, während sie noch schlief, von Montag bis Freitag ein Sonntagsfrühstück. Blumen auf dem Tisch, auch im Winter, eine Kerze, die brannte. Warmer Kakao, frische Brötchen.
Auch wenn Rosa sagte: „Oma, du musst das nicht tun“ – als Oma das letzte Mal mit dem Busunternehmen für ein paar Tage am Rhein war, da hatte ihr das Oma-Frühstück gefehlt.
Die ersten beiden Tage hatte sie wirklich nur Toastbrot gegessen und kalte Milch getrunken. Am dritten Tag dann war sie eine Stunde früher aufgestanden und hatte sich Brötchen aufgebacken und die Milch gekocht.
Und doch hatte etwas gefehlt. Die Brötchen schmeckten frischer und auch der Kakao süßer, als Oma wieder da war.
Wieso ist das so, Oma?“, hatte Rosa gefragt. Oma hatte gelacht und gesagt: „Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen. Das ist ein altes Geheimrezept. Daran halte ich mich. Ich mische immer noch eine Prise Liebe für dich unter. Aber das kannst du für dich selbst leider nicht tun.“
Als sie jetzt am Frühstückstisch saß, fiel ihr das ein. Sie dachte: „Vielleicht ist das die Krone, die du festhalten musst und die dich glücklich macht: Die Liebe, die dir jemand anderes schenkt.“

III

Setz dir deine Mütze auf, die Haare sind doch noch nass.“ Auch an diesem Morgen rief ihr die Oma nach, als Rosa sich auf den Schulweg machte. „Jaha!“, antwortete sie – und setzte die Mütze wieder ab, sobald sie um die Straßenecke bog.
Auf dem Weg zur Schule kam sie am Altenheim vorbei. An sonnigen Tagen saßen oft alte Frauen auf der Bank oder auf ihren Rollatoren vor der Tür, wenn sie nach Hause ging.
An diesem Morgen traf Rosa bereits an der Straßenecke eine der Frauen. Mit kleinen, hastigen Schritten schob sie den Rollator vor sich her.
Eine Mütze hatte die alte Frau nicht auf. Sie trug auch keine Jacke über der geblümten Bluse mit Kaffeeflecken, an ihren Füßen schlappten braune Hausschuhe.
Entschuldigen Sie“, sprach die alte Frau Rosa an, „ich muss dringend zur Post. Können Sie mir den Weg sagen?“
Rosa streckte den Arm aus und zeigte über die Kreuzung, da fiel ihr etwas ein: „Aber die Post hat ja noch gar nicht auf!“
Ach!“ Die alte Frau schaute verwirrt: „Aber wo muss ich denn dann hin?“ „Oh, ich glaube, wir haben den gleichen Weg“, antwortete Rosa.
So begleitete sie die alte Frau zurück zum Altenheim. Um ganz sicher zu gehen, ging sie mit ihr bis in die Eingangshalle.
Dort trafen sie auf eine Pflegerin, die sich über den morgendlichen Ausflug der alten Frau nicht weiter wunderte: „Aber Sie hätten sich ruhig etwas überziehen können.“
Rosa verabschiedete sich von der alten Frau. Beim Verlassen des Altenheims fiel ihr Blick auf ein Bild. Mit verschnörkelten Buchstaben stand darauf geschrieben: „Meine Kindlein, laßt uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.
Das mit der Tat habe ich für heute erledigt“, dachte Rosa. Sie freute sich darauf, ihrer Lehrerin ausführlich die wahre Geschichte zu erzählen, warum sie an diesem Morgen zu spät kam.

Vorgetragen als Ansprache im Taufgottesdienst für drei Konfirmandinnen.

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