Ein Himmelsschlüssel


Schlüssel. Große, kleine. Alte, neue. Wie sie sich so anfinden. Bei dem einen ist klar, für welche Tür er gedacht ist. Bei anderen weiß keiner mehr, zu welchen Schlössern sie passen sollen. Aber sie sind noch da, die Schlüssel. Und wer weiß, womöglich auch irgendwo die Schlösser.

Es gibt die wirklichen Schlüssel für die wirklichen Schlösser. Und es gibt die bildlichen Schlüssel für die bildlichen Schlösser.
Erlebnisse zum Beispiel können zum Schlüssel werden, zu Schlüsselerlebnissen.
Für manchen ist das ein Urlaub auf Föhr. Das glänzende Watt, der weite Himmel über der Marsch. Die Zeit bleibt stehen und weitet sich für einen Augenblick zur Ewigkeit. Das Kleinklein des Alltags wird von der Weite Gottes umfangen.
Der Schlüssel dreht sich im Schloss und öffnet den Blick auf den Schatz, der das Leben ist. Ein Geschenk, das glänzt.
Für andere wird auch der Bruch im Leben zu einem Schlüssel.
Das Leben kommt immer dazwischen. Manchmal als Krankheit, die den vertrauten Alltag unterbricht. Was eben noch selbstverständlich war, ist es plötzlich nicht mehr.
Auch da bleibt die Zeit stehen und weitet sich für einen Augenblick zur Ewigkeit: Der Schmerz oder die Angst öffnen den Blick auf den Schatz, der das Leben ist. Ein bedrohtes Geschenkt, das dennoch glänzt.
Auch Worte können zu Schlüsseln werden. Zu Schlüsselworten. Worte, die das Herz aufschließen, weil sie mich ansprechen. Ein Satz, der mir zur Lebenswahrheit wird.
Für manche sind es Bibelverse. Der Taufspruch, den ich für das Kind aussuche: Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.
Der Konfirmationsspruch, der mir zum Leitwort wird: Nichts ist unmöglich dem, der glaubt. Der Trauspruch, der zwei verbindet: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen.
Für andere sind es Worte, die einer ihnen sagt und die auf geradem Weg in die Seele fallen.
Du bist ein wunderbarer Mensch, sagt einer, und macht mich stark gegen alle Selbstzweifel. Gut, dass du da bist, sagt eine und reicht mir die Hand, und ich weiß, wozu ich da bin.
Gott segne dich, sagt jemand und legt mir die Hand auf, und ich spüre, dass ich behütet meine Wege gehe.
Schlüssel sind dazu da, Schlösser aufzuschließen. Ganz wortwörtlich wie die Schlüssel in dem Korb hier. Oder bildlich wie Schlüsselerlebnisse und Schlüsselworte.
Was hat dir den Schatz des Lebens aufgeschlossen? Was hat dir den Himmel aufgeschlossen?
Schlüsselerlebnisse, Schlüsselworte, die selber zum Schatz geworden sind, weil sie das Schloss zum Schatz des Lebens geöffnet haben: Seht, so sehr glänzt das Leben. Seht, so sehr glänzt mein Leben.

Schätze, die gehören in eine Schatzkiste. Weil sie so wertvoll sind. Und damit sie gut aufgehoben sind. Heute und morgen und alle Tage.
Dazu sind Schatzkisten da. Sie bewahren, was wertvoll für mich ist. Die Schlüsselerlebnisse, die Schlüsselworte, die mir das Leben und den Himmel aufschließen.
Und immer, wenn ich es brauche, nehme ich die Schatzkiste und hole die Schätze daraus hervor und schaue sie an und freue mich daran, wie sie glänzen. Und die Freude an ihnen steigt noch einmal neu auf.
Die Schatzkiste hilft mir, den Schatz zu bewahren. Für mich. Und vor anderen.
Manchmal denke ich: Die Erlebnisse und die Worte, die mir zum Schlüssel wurden, sind zu wertvoll, um sie zu zeigen. Weil andere sie mir stehlen könnten.
Nicht in dem Sinne, dass sie sie mir aus der Hand reißen und in ihrer eigenen Schatzkiste verschließen. Sondern indem sie sagen: Das ist doch Plunder.
Das ist doch nichts als Kitsch, wenn du in Utersum der Sonne zuschaust. Was hat das mit dem Schatz des Lebens zu tun?
Das sind doch nichts als hohle Worte, wenn einer sagt: Gott segne dich. Worauf du baust, das ist Schall und Rauch.
Manchmal sind sie zu wertvoll, die Schätze, um sie anderen zu zeigen und ihrem Urteil auszusetzen.
Was, wenn einer nur müde lächelt über das Erlebnis, das mir zur Lebenswende wurde? Was, wenn einer nur die Stirn runzelt über mein Lieblingswort?
Womöglich beginnt dann der Glanz zu verblassen. Das Erlebnis wird schal. Das Wort wird leer. Für den anderen sowieso. Aber auch für mich.
Sind meine Schätze am Ende nur belanglose Erinnerungen und Reime fürs Poesiealbum?
Besser, ich schließe sie in die Schatzkiste und bewahre sie so. Vor dem Spott anderer. Und vor den eigenen Zweifeln.
Besser, ich schließe die Schatzkiste ab und lasse den Schlüssel zwischen anderen Schlüsseln verschwinden.
Da habe ich also die Schatzkiste abgeschlossen und den Schlüssel verschwinden lassen. Und womöglich habe ich das alles schon fast vergessen. Nur ganz hinten in meinem Kopf, in einem versteckten Winkel meines Herzens glimmt noch eine Erinnerung.
Und dann kommt unerwartet ein Windhauch und schlägt aus dem Glimmen einen Funken. Und die Erinnerung steigt auf. Da war doch ein Schatz. Und da war doch eine Schatzkiste. Und da war doch ein Schlüssel dazu.
Und ich begebe mich auf die Suche. Vielleicht allein. Besser noch mit anderen. Denn das, was wichtig ist, das finde ich so selten allein. Für das, was wichtig ist, brauche ich andere, die mir helfen.
Die den Schlüssel wiederfinden zu meiner Schatzkiste. Die mit mir versuchen, die Kiste zu öffnen.
Und dann haben wir den Schlüssel gefunden, die Schatzkiste ist offen. Frische Luft kommt an die Schlüsselkarten. An die Erlebnisse und Worte, die zum Himmelsschlüssel wurden.
Und der Schatz beginnt von Neuem zu glänzen: Ist das nicht die Wahrheit, auf die ich vertraue? Ist das nicht das Erlebnis, aus dem ich Leben kann?
Doch, das sind sie. Fast vergessen. Und immer noch da. Wieder da. Mit neuer Kraft und neuer Stärke. Wie Wind fahren sie unter meine Flügel und tragen mich empor.
Was so glänzt, das kann ich unmöglich für mich selber bewahren. Es ist so schön, ich muss es anderen zeigen.
Was so mein Herz zum Hüpfen bringt, das kann ich unmöglich verschließen. Das muss auch andere bewegen.
Oder sollte es dazu nicht genug Glanz und nicht genug Kraft haben?
Ich kann das herausfinden. Ich muss das herausfinden. Dazu gibt es nur einen Weg: Ich muss den Schatz hervorholen aus der Schatzkiste.
Ich muss anderen zeigen, was mein Leben zum Glänzen bringt, und ihnen weitersagen, was mein Herz aufschließt.
Wenn sie das Leuchten in meinen Augen sehen, werden sie meine Freude teilen. Und wenn sie meine Begeisterung spüren, wird sie sie anstecken.

Wer weiß: Womöglich öffnet das Wort oder das Erlebnis, das mir zum Himmelsschlüssel wurde, auch bei ihnen etwas. Vielleicht hilft es ihnen, einen Schlüssel zu finden, der ihnen den Himmel aufschließt.

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