Cherub vor der Tür


Ein Weihnachtslied zum Anfang der Passionszeit:

Die Bibel erzählt, wie Gott einst den Cherub an die Tür zum schönen Paradeis schickte. Das kam so:
Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. (1 Mose 2,8-9)
Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.
Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben. (1. Mose 2,15-17)
So lebten sie im Garten, die Menschen. Und sie waren beide nackt, Adam und Eva, und schämten sich nicht. (1. Mose 2,25)
Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?
Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!
Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.
Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.
Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des HERRN zwischen den Bäumen im Garten.
Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?
Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.
Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? (1. Mose 3,1-11)
Und Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.
Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!
Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.
Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens. (1. Mose 3,21-24)

So also erzählt die Bibel, wie Gott einst den Cherub an die Tür zum schönen Paradeis schickte. Und wie der gewaltige Engel Adam und Eva den Weg verstellte zurück in den Garten Eden.

Adam und Eva verloren also das Paradies. Aber sie gewannen ja auch etwas. Die Schlange behielt recht: An dem Tage, an dem ihr vom Baum Erkenntnis esst, werdet ihr sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist!, versprach sie.
Und nachdem sie es getan hatten, stellte auch Gott fest: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.
Um gut und böse zu wissen, ist eine göttliche Eigenschaft. Der Mensch hat sie, er kann zwischen dem einen und dem anderen unterscheiden. Er weiß, was gut und was böse ist. Was dem Leben dient und was dem Leben schadet.
Am leichtesten erfährt er das am eigenen Leib: Bei dem, was andere für mich tun oder mir antun, weiß ich, ob es mir hilft, mich freut – oder ob es mich verletzt, mich traurig macht.
Und wenn einer mir sagt: „Das ist doch nur zu deinem Besten“ und mir dabei weh tut, weiß ich, das etwas nicht stimmt an dem, was er sagt und tut.
Ob etwas gut oder böse ist, das sieht der Mensch am schärfsten an dem, wie andere sich gegenseitig behandeln. Der Splitter im Auge des anderen ist immer größer als der Balken in meinem eigenen.
Aber genauso werden immer andere mir Vorbild bleiben, wenn es darum geht, dem Leben zu dienen und liebevoll zu sein zu Menschen, die sie brauchen.

Um gut und böse zu wissen, ist eine göttliche Eigenschaft. Adam und Eva gewannen etwas, als sie die Früchte vom Baum der Erkenntnis aßen.
Die Schlange behielt also recht. Aber sie verschwieg den Preis, den Adam und Eva bezahlen mussten: Wer weiß, was gut und böse ist, der erkennt auch, dass er nackt ist.
Ob etwas gut oder böse ist, das sehe ich ja nicht nur bei anderen. Das sehe ich ja auch bei mir. Auch was ich tue, dient dem Leben oder schadet ihm.
Was ich tue, liegt offen vor den Augen der anderen. So, wie ich weiß, ob sie Gutes oder Böses tun, so wissen sie es bei mir.
Was ich auch tue, ich sehe mir dabei zu – mit den Augen der anderen. Was mögen sie davon halten und von mir? So bin ich nackt vor ihnen und ihrem Urteil schutzlos ausgeliefert.
Adam und Eva suchen sich Feigenblätter. Sie wollen sich verbergen vor Gott und seinem Urteil. Es ist ihnen unangenehm, dass Gott sie so sieht, nackt, so wie sie sind.
Menschen sind jahrelang so erzogen worden: Gott sieht alles. Gott sieht auch das, was andere nicht sehen. Gott urteilt über dich. Gott sieht dich nackt.
Kein Wunder, dass Menschen sich vor diesem Gott verstecken und mit ihm nichts zu tun haben wollen. Er hat ihnen gar nichts zu sagen. Noch weniger als andere Menschen, die sich anmaßen, über sie zu urteilen und mit dem Finger auf sie zeigen, weil sie genauso so nackt sind wie sie selber.
Um gut und böse zu wissen, ist eine göttliche Eigenschaft und eine menschliche. Sie verbindet Gott und Mensch.
Aber sie trennt auch. Sie steht zwischen Mensch und Gott. Wie ein Cherub mit flammendem Schwert verstellt sie den Weg zurück ins Paradies.
Wer einmal um gut und böse weiß und darum, dass er andere anschaut und andere ihn, der kann dieses Wissen nicht mehr vergessen.
Die Schlange hat ganze Arbeit geleistet. Die Unschuld, mit der Adam und Eva im Paradies lebten, ist zerstört. Und eine Unschuld, die einer einmal verloren hat, findet er nicht wieder. Auch wenn er noch so sehr sucht.

Es gibt keinen Weg zurück. Der Cherub bewacht die Tür zum schönen Paradeis. Er bewacht sie in eine Richtung: Niemand kann von draußen nach drinnen.
Aber jemand kann von drinnen nach draußen. Gott kann das. Der schließt sein Himmelreich auf und schenkt uns seinen Sohn.
Der kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein. Der äußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering. (EG 27)
Wie niedrig und gering, das erzählt die Passion.
Passion, sagt der Duden, heißt starke Neigung. Gott neigt sich zum Menschen. Nicht hinunter. Sondern hinüber. Von du zu du, von Mensch zu Mensch: Im Menschen Jesus neigt sich Gott zum Menschen hin.
Freundlich schaut er ihn an: Fürchte dich nicht, dass du nackt sein könntest. Du bist wunderschön gemacht, das sehe ich.
Passion, sagt der Duden, heißt auch leidenschaftliche Hingabe. Gott gibt sich dem Menschen hin. Nackt stellt er sich vor ihn. Er liefert sich ihm aus: Wie siehst du mich?
Er sehnt sich nach den Menschen, die zu ihm kommen, um bei ihm das Leben zu lernen. Er erduldet, dass Menschen das genaue Gegenteil tun: Das, was dem Leben schadet, was ihm ein Ende setzt und ihn vertreiben will aus der Welt.
Passion, sagt der Duden, meint auch das Leiden und die Leidensgeschichte Christi. Das Leiden endet am Kreuz, endet im Tod. Aber die Leidensgeschichte geht ja weiter.
Im Tod tut sich eine Tür auf. Die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Und mitten im Paradies wird das Kreuz zum Baum des Lebens.
Aber das ist eine andere Geschichte und ein anderes Lied. Ein Passionslied.

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