Erde auf dem Nachtschrank


So sehr liebte Gott diese Welt. Sie stand auf seinem Nachtschrank, damit er sie abends als letztes sah, bevor er die Augen schloss, und morgens als erstes, wenn er aufwachte.
Am schönsten war sie, wenn er nachts aufwachte und zu ihr hinüber blinzelte: Eine blaue, weiße, grüne, braune Kugel, die im Dunkel des Alls ganz unwirklich leuchtete.
Wenn Gott tagsüber nach ihr schaute, hatte er immer dieses Sonntagsgefühl. Für einen Augenblick ruhte er von dem, was er gerade tat und sagte sich und seinen Engeln: „Seht, ist sie nicht gut, sehr gut sogar?“ Und die Engel nickten.

Eines Morgens, Gott hatte die Augen noch nicht geöffnet, um nach seiner Welt zu sehen, weckte ihn ein Engel.
„O mein Gott“, sagte der Engel, „schau dir die Erde an, die Menschen sind in heller Aufregung.“
Gott richtete sich knurrend auf, er mochte es nicht, vor dem Aufwachen geweckt zu werden. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen und nahm sich die Brille und schaute nach der Erde.
Tatsächlich: Etwas stimmte nicht. Flugzeuge flogen nicht, Fabriken standen still, Fußballstadien blieben leer. Menschen liefen mit Masken vor dem Gesicht durch Supermärkte und packten die Einkaufswagen voll.
Gott hörte sie wispern: Corona, Corona, Corona. Er spürte ihre Angst, eine unwirkliche Angst um ihr Leben. „Aber warum?“, fragte er den Engel.
Der zuckte noch mit den Achseln, da rief der nächste Engel: „Oh, mein Gott“, und zeigte mit einem seiner sechs Flügel auf einen anderen Ort auf der Erde.
Da war kein Blau und kein Grün mehr zu sehen und kein Leuchten mehr. Nur helles Braun, ein flirrendes, flatterndes Braun. Heuschrecken, riesige Heuschreckenschwärme, die alles kahl fraßen.
Weil Gott über den Horizont des Augenblicks hinaussehen konnte, sah er schon die Menschen mit großen Augen und aufgeblähten Bäuchen und Fliegen im Gesicht. Gott sah und spürte schon den Hunger dieser Menschen.
„Aber wieso hilft ihnen keiner von den satten Menschen?“, fragte der Engel, der wie Gott in die Zukunft sah. Gott seufzte und hob die Hände und wollte antworten.
Da unterbrach ihn ein dritter Engel: „Oh! Mein! Gott! Sieh dir das an!“ Gott sah sich das an und schlug die Hände vors Gesicht und erstarrte.
Es blitzte und es krachte, Feuer fraß sich durch Straßen, Häuser stürzten in sich zusammen. Braun und Grau mischte sich mit hellem Rot, das langsam dunkler wurde.
Menschen starben, weil andere Menschen Raketen zündeten, Bomben abwarfen, mit Gewehren schossen. Eingestaubt und verrenkt, blutüberströmt lagen tote Körper in den Ruinen.

„O mein Gott“, rief da ein vierter Engel, der atemlos in den Raum eilte. „Sie kommen, sie kommen alle. Die Menschen. Sie wollen zu dir. Sie wollen in den Himmel.“
Plötzlich war der ganze Raum voller Engel, die riefen laut durcheinander. „Schließt die Himmelstore!“ „Mobilisiert die himmlischen Heerscharen!“ „Der Himmel gehört uns!“
Immer lauter wurden die Engel und immer aufgeregter. Sie merkten nicht wie Gott aufstand und sich anzog.
Nicht das weiße Gewand und nicht den roten Umhang zog er an. Sondern eine Jeans, einen Pullover, braune Schuhe.
Die Engel merkten auch nicht, wie Gott zum Nachtschrank trat und beide Hände um die Erde legte, die er so sehr liebte.
Immer kleiner wurde er, immer kleiner. Dann war er verschwunden. Erst da bemerkten die Engel, dass etwas nicht stimmte. „O mein Gott, wo bist du?“
Sie schauten sich um. Sie schauten sich an. „Oh, mein Gott!“ rief ein dritter Engel und zeigte auf die Erde, die immer noch auf dem Nachtschrank stand.

Da war Gott. Auf der Erde. In den Jeans und dem Pullover und den braunen Schuhen.
Er war auf einem Schiff, das außerhalb des Hafens vor Anker lag. Kein Mensch durfte an Land, kein Mensch durfte an Bord. Quarantäne nannten die Menschen das.
Gott ging über die Decks und in die Kajüten. Misstrauisch sahen die Menschen ihn an. „Du musst dich nicht fürchten“, sagte er zu allen.
Jeden und jede wollte er umarmen. Manche wichen erschrocken zurück. Andere, die es geschehen ließen, lächelten glückselig.
„In dieser Welt müsst ihr Angst aushalten“, sagte Gott. „Aber verliert nicht den Mut: Ich habe diese Welt und ihre Angst besiegt!“

Da war Gott. In dem Land, das die Heuschrecken kahl gefressen hatten und wo jetzt die Männer und Frauen und Kinder im Staub saßen und Hunger hatten.
Er verscheuchte die Fliegen aus Kindergesichtern, er stützte die Frauen, die sich kaum auf den Beinen halten konnten, er stand mit den Männern beim Lastwagen an, von dem Beutel mit Lebensmitteln verteilt wurden.
Zugleich saß er in einer dieser Talkshows, die Menschen sich von ihrem Sofa aus ansahen mit Chips auf dem Schoß und einem Bierglas in der Hand. „Wie groß ist der Hunger wirklich?“, so lautete der Titel.
„Ich war hungrig“, sagte Gott, „und ihr habt mir nichts zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben. Denn was ihr für andere nicht getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend waren –, das habt ihr auch für mich nicht getan!“

Da war Gott. In der Stadt, die Menschen zerschossen hatten. Er ging durch die Straßen. Er half dabei, den verschütteten Eingang zu einem Haus freizulegen.
Er setzte sich zu den Menschen unter die Plane, die sie über einem Teppich aufgespannt hatten, und trank süßen Tee mit ihnen.
Er schloss sich anderen an, als sie die paar Sachen, die wichtig waren zum Überleben von Leib und Seele, in Taschen packten und loszogen.
Fort von diesem Ort, an dem Krieg und Tod herrschten. Vor Augen den Traum von einem Land, in dem die Häuser heil waren und die Parks grün und die Menschen freundlich. Heimat wäre es nicht, aber Zuflucht, um Frieden zu finden.
Gott ging mit ihnen. Gott kam mit ihnen an den Zaun, Rollen über Rollen aus Nato-Draht.
Von der anderen Seite des Stacheldrahtes wurde geschossen. Es rauchte, die Augen brannten.
Ein Gummigeschoss traf Gott im Rücken, er zuckte zusammen unter dem Schmerz. Er drehte sich um zu denen, mit denen er auf der Flucht war.
Er breitete die Arme aus, als wollte er sie alle umarmen: „Kommt zu mir“, rief er, „ihr alle, die ihr euch abmüht und belastet seid! Bei mir werdet ihr Ruhe finden.“
Einen Augenblick war Ruhe. Dann knallte ein Schuss. Gott fiel nach vorne in den Staub, die Arme immer noch ausgebreitet, der Körper auf dem Boden, der sich dunkel färbte: ein Kreuz.

„Oh, mein Gott“, stammelten die Engel, und starrten erschrocken auf die Erde, die auf dem Nachtschrank stand. „Warum hast du uns verlassen?“
„Ich habe euch nur einen kleinen Augenblick verlassen“, antwortete Gott, „da bin ich wieder“. Er trat mitten unter seine Engel, die vor Freude erschraken.
„Aber“, sagte ein Engel, „wir haben doch gesehen, wie ...“
„Wieso?“, unterbrach ihn ein anderer Engel: „Wieso hast du das getan und bist für diese Menschen gestorben, die doch so …, so …, so gottlos sind?“
„Ja“, sagte ein anderer Engel, „Angst haben sie und kein Vertrauen. Sie lassen andere in ihrer Not sitzen, statt zu helfen. Sie bringen sich gegenseitig um und verbarrikadieren sich voreinander.“
„Von diesen Menschen“, fiel ein anderer Engel ein, „von diesen Menschen wird sich kaum jemand finden, der für den anderen tut, was der braucht.“
„Genau“, sagt der nächste, „geschweige denn, dass einer für einen anderen Menschen stirbt. Höchstens um eines besonders Guten willen wagt vielleicht einer sein Leben.“
„Aber du, du musst unbedingt zu ihnen gehen und sie umarmen und sich für sie einsetzen und auch noch für sie sterben!“
„Ihr wollt Engel sein und wisst nicht, dass ich nicht anders kann, dass ich es genau so machen muss?“, fragte Gott da. „Ich will ihnen meine Liebe beweisen dadurch, dass ich für sie gestorben bin.
Die Engel schwiegen. Sie schwiegen lange. Dann sagte einer von ihnen leise: „So sehr liebst also du die Welt und die Menschen?!“
„Ja“, sagte Gott, „sie sollen nicht gottlos bleiben. Und jetzt geht und macht den Himmel auf für die Menschen. Vielleicht öffnen sie dann die Herzen füreinander.“

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