Ein Augenblick in der Menge

"Siehe, dein König kommt zu dir!" Wir haben gerade am Straßenrand gestanden und zugesehen. Zwischen Menschen, die aufgeregt die Arme schwenkten und sich heiser jubelten.

Wir sind ja leider nicht so groß und haben also nicht allzu viel gesehen. Außer den Menschen vor und neben und hinter uns, die nur mit Mühe Sicherheitsabstand hielten.

Aber weil wir nur diese Menschen sahen, konnten wir sie uns in Ruhe anschauen und uns fragen, was sie wohl bewegt, warum ausgerechnet sie mit uns am Straßenrand standen.

Manchen konnte man es ansehen. Zumindest haben wir uns eingebildet, dass wir es könnten. Bei den meisten war ja wegen der Masken nicht viel zu sehen vom Gesicht.

Etwas vor uns stand zum Beispiel dieser Mann. Etwas älter schon, die Maske war unter die Nase gerutscht. Immer wieder riss er die linke Hand hoch. In der hielt er einen großen schwarzen Schirm.

Das sah ein wenig so aus, als wollte er in den Kampf ziehen. Gemeinsam mit dem König. Gegen irgendwelche Feinde, von denen er meinte, die seien auch die Feinde des Königs.

Der freute sich auf den König, weil nun endlich wieder alles werden würde, wie es einmal war. Gut und richtig und ordentlich. Weil doch auch der König das für gut und richtig und ordentlich halten musste.

Vielleicht war es das, was er vom König erwartete: Dass der das Leben und die Welt endlich wieder in Ordnung brachte. So wie es sich gehörte. So wie sie einst war und für immer gehörte.

Gar nicht weit weg stand auch eine Frau. Die konnte die Arme erst gar nicht heben. Links und rechts hielt sie in ihren Händen Beutel. Deren Griffe schnitten in die Hände, die waren ganz weiß.

Irgendwann stellte sie erst den einen Beutel neben sich und dann den anderen. Und dann stellte sie sich immer wieder auf die Zehenspitzen, um etwas zu sehen, und hob den Arm und winkte.

Aber das sah eher so aus, als würde sie ein Taxi rufen. Oder jedenfalls jemanden herbeiwinken, der ihr die schweren Taschen abnahm und für sie nach Hause trug.

Vielleicht war es das, was sie vom König erwartete: Das jetzt alles endlich so gut werden würde, wie es noch nie war. Dass sich von nun auf gleich etwas ändern würde in ihrem Leben und es ihr leichter würde ums Herz und überhaupt.

Und während wir da so standen und uns die Leute anschauten, fragten wir uns irgendwann natürlich auch, warum wir da standen. Wieso hatten wir uns zu all den anderen an den Straßenrand gestellt?

Hätte uns jemand angesprochen und gefragt, hätten wir wahrscheinlich geantwortet: Weil da alle stehen. Und weil wir einfach mal sehen wollen, wie er aussieht, der König.

Aber wenn wir dann ehrlich gewesen wären, hätten wir zugeben müssen: Da schlug in uns auch eine unerklärliche Sehnsucht. Irgendetwas Unbestimmtes war offen in unserem Leben und suchte eine Antwort.

Vielleicht, weil wir etwas verloren hatten, ein Paradies, in dem alles gut und richtig und in Ordnung war. Vielleicht auch, weil noch etwas ausstand, worauf wir warteten: ein Frieden, den wir suchten und nicht selber machen konnten.

Hätte uns jemand angesprochen und gefragt, hätten wir wahrscheinlich so geantwortet. Aber uns sprach keiner an und fragte auch niemand.

Stattdessen tat sich plötzlich eine Lücke auf zwischen all den Menschen vor uns und wir hatten freien Blick. Und da sahen wir ihn. Wir sahen den König.

Und der hatte freien Blick auf uns. Der sah uns. Der König sah uns geradewegs in die Augen. Und wir sahen in seine Augen. Ein Leuchten sahen wir dort.

Ein Leuchten, das uns durch die Augen mitten ins Herz ging. Als würde der König unser Herz ansehen. Das, was uns da bewegte. Und das, was wir dort bewahrten.

In dem Augenblick – versteht ihr? Augen-Blick! – in dem Augenblick sahen auch wir mit dem Herzen. Der Satz ist ja abgedroschen, dennoch: Nur mit dem Herzen sieht man gut.

Wir sahen mit dem Herzen. Und wir sahen: Jetzt ist es gut. Gut war nicht allein das Paradies, das verloren ist. Und gut wird nicht erst der Frieden, der noch aussteht.

Gut ist immer schon jetzt. Auch wenn wir etwas verloren haben, das uns fehlt, dem wir nachtrauern. Auch wenn wir uns nach etwas sehnen, das zu unserem Glück noch aussteht.

Gut ist immer schon jetzt. Weil der König kommt. Zu uns. Zu dir. Weil der König uns ansieht. Euch und uns. Alle, die ihre Augen und Herzen öffnen.

Bestimmt werden wir weiter traurig sein. Und bestimmt werden wir uns weiter sehnen. Aber wir werden ab jetzt auch hoffen. Mal leise und vorsichtig. Mal laut und jubelnd. Da ist einer, der uns sieht. Der uns ansieht.

Da am Straßenrand haben wir dann auch gejubelt. Als der König uns ansah und vorbeizog. Einen Augenblick nur hatte er uns angesehen. Doch das hatte alles verändert.

Übrigens, verändert: Als der König vorbeigezogen war, da griff die Frau nach ihren Taschen. Der eine Beutel kippte dabei um, eine Apfelsine kullerte hinaus.

Sie rollte bis zum Mann mit dem Schirm. Der ging in die Knie und hob die Apfelsine auf und brachte sie der Frau. Die lächelte ihn an und nahm die Apfelsine. Und steckte sie zurück in die Tasche.

Der Mann sagte irgendetwas und die Frau lächelte und nickte und der Mann gab ihr den Schirm und nahm die beiden Beutel. Und so gingen sie zusammen los.

Als sie an uns vorbeikamen, trafen sich kurz unsere Blicke. Sie hatten beide ein Leuchten in ihren Augen. So wie wir womöglich auch. Ein #Hoffnungsleuchten.

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