Heimgesucht


„Ich will euch heimsuchen.“ Jeremia schreibt das auf für Gott. Gott lässt das ausrichten.

„Ich will euch heimsuchen.“ Wir haben nachgeschaut auf www.duden.de. Da steht unter heimsuchen: „Als etwas Unerwünschtes, Unheilvolles über jemanden kommen“.

Als Beispiel steht dort: „Ein Krieg, eine Dürre suchte das Land heim.“ Dort könnte auch stehen: „Eine Pandemie suchte viele Länder heim.“

Das Robert-Koch-Institut meldet seit zwei Wochen jeden Tag neue Rekordwerte bei der Zahl derer, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben.

Es gibt Animationen, die zeigen, wie sich die Ansteckungsrate entwickelt. Innerhalb eines Monats verfärbt sich das Land wie Blätter im Herbst: Von grün über gelb und orange hin zu rot.

Die, die sich anstecken, werden tatsächlich von der Krankheit heimgesucht. Für manche scheint es nicht mehr zu sein als eine Grippe. Andere kommen knapp mit dem Leben davon und leiden noch Wochen später unter Atemnot.

Unter den Folgen der Pandemie leiden alle, auch die, die sich nicht anstecken. Die Urlauber, die jetzt nach Hause fahren sollen. Die Gastronomen, die schließen müssen. Die Musiker und Schauspieler, die nicht mehr auftreten dürfen.

Das Coronavirus ist eine Heimsuchung. Aber Jeremia spricht ja nicht von der Pandemie. Er schreibt das für Gott auf: „Ich will euch heimsuchen.“

Auf www.duden.de steht unter heimsuchen auch: „Bei jemandem in einer ihn schädigenden oder für ihn unangenehmen, lästigen Weise eindringen.“

Nebukadnezar hat das getan. Er ist mit seiner Armee in einer schädigenden und unangenehmen Weise in Jerusalem eingedrungen und hat die Menschen weggeführt nach Babel.

Bei Jeremia heißt es: Gott hat das getan. Er hat die Ältesten und Priester und Propheten und all die anderen weggeführt. An einen Ort, der ihnen nicht gefällt.

Jeremia versteht das so: Gott hat seine Stadt Jerusalem und seine Menschen heimgesucht.

So sitzen sie also dort. Die einen im fremden Land im Exil. Die anderen im eigenen Land unter fremder Herrschaft. Beides ist die Folge des unangenehmen, lästigen Besuches, den Gott ihnen abstattete.

Und dieser unfreundliche Besuch ist wiederum Folge dessen, was die Menschen in Jerusalem zuvor getan und nicht getan haben. Dieser Besuch ist eine Heimsuchung mit Ansage.

Zumindest dann, wenn es nach dem Maßstab Auge um Auge und Zahn um Zahn geht. Dann muss auf Ungehorsam ja Strafe folgen.

Und das Unheil, das einen trifft, das muss sich aus etwas ergeben, das er getan hat. Das Unheil ist eine Heimsuchung. Es kommt als etwas Unerwünschtes über jemanden. Aber nicht als etwas Unverdientes.

„Ich will euch heimsuchen.“ Auf www.duden.de steht auch: Heimsuchen kommt vom Mittelhochdeutschen heime suochen, was bedeutet „zu Hause aufsuchen“.

„Zu Hause aufsuchen“ – mit dem Zusatz: Das kann auch in freundlicher Absicht geschehen. So versteht es Martin Luther, als er Jeremia übersetzt.

So steht es ganz gegen unseren Sprachgebrauch heute auch noch in der Lutherbibel von 2017. Gott lässt euch ausrichten: „So will ich euch heimsuchen – mit freundlichen Absichten.“

Wir stellen uns vor, die Menschen sitzen in dem Haus, das sie sich im Exil gebaut haben. Da klopft es an der Tür und sie erwarten einen, der ihnen Saures will. Aber als sie öffnen, steht da einer, der ihnen Süßes bringt.

Auge um Auge, Zahn um Zahn, diese alte Gleichung gebrauchen wir ja manchmal immer noch. Nur dass wir stattdessen sagen: Wie du mir, so ich dir.

Und meistens halten wir das für ausgleichende Gerechtigkeit: Er hat ja schließlich auch … Sie hat ja doch auch nicht … Und stecken mittendrin in einem Teufelskreis aus dir und mir.

Wir stellen uns vor: Gott dreht diese Gleichung einfach um. Aus „Wie du mir, so ich dir!“ wird „Wie ich dir, so du mir!“ Gott kommt zu Besuch und bringt ein Gastgeschenk mit und schon öffnen sich gastfreundlich die Türen und die Herzen.

„So will ich euch heimsuchen.“ Nachdem er lange an Gott fast verzweifelt ist, kann Luther sich das nur noch so vorstellen: Gott kommt und klopft in freundlicher Absicht an die Tür.

Eine Pandemie kann keine strafende Heimsuchung Gottes für irgendetwas sein, das ein Mensch getan oder nicht getan hat. Gott arbeitet nicht nach der alten Regel Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Aber eine Pandemie ist durchaus etwas, das den Glauben herausfordert. Sie macht müde und ohnmächtig. Sie lässt Zweifel und Angst keimen.

Das Coronavirus zieht uns in seinen Bann. Die täglichen Zahlen der neuen Ansteckungen, die Fortschreibung der Inzidenzwerte. Überall droht und herrscht die Krankheit.

Und es hilft nicht, das Coronavirus als eine normale Grippe kleinzureden. Und es hilft erst recht nicht, die Pandemie für eine Verschwörung zu halten. Das ändert nichts.

Aber vielleicht hilft es, wenn ich mir vorstelle, dass Gott mich heimsucht. Mitten im Lockdown steht er in freundlicher Absicht vor der Tür.

Wir bitten ihn herein und bieten ihm einen Stuhl an – natürlich mit Abstand – und eine Tasse Kaffee und einen Keks. Und wir erzählen ihm, wie es uns geht.

Wie fremd wir uns manchmal fühlen in unserem Alltag. Wie enttäuscht davon, dass nichts wird, wie wir es planen. Wie erschöpft, weil noch immer kein Ende in Sicht ist.

Und wie wir noch erzählen, werden wir ein wenig wacher – und es liegt nicht am Kaffee. Unser Gegenüber lächelt uns an und wir lächeln vorsichtig zurück.

Er sagt: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“

So fühlt es sich an, wenn Gott uns heimsucht. 

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