Aus der Hand geben

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Es war Frühling in Jerusalem. Zeit für das Passahfest. Zeit, das Leben zu feiern und die Freiheit. Es befanden sich auch einige Griechen unter denen, die zum Fest nach Jerusalem gekommen waren, um Gott anzubeten.

Die Griechen waren Fremde in dieser Stadt. Sie waren gekommen, weil sie von dem Gott gehört hatten, der hier angebetet wurde.

Sie hatten die Geschichten gehört, die sich die Juden von ihrem Gott erzählten, gerade jetzt zum Passahfest. Unser Gott hat uns aus Ägypten und der Gefangenschaft befreit. So hieß es.

Die Geschichten hatten die Griechen nach Jerusalem gezogen. Und auch ihre Sehnsucht. Nach einem Gott, der sie frei macht.

Frei im alltäglichen Leben. Frei von denen da oben. Von den römischen Herren und ihren Helfershelfern. Von der Besatzungsmacht und allen ihren Steuern und Regeln.

Und wenn die Römer erst einmal verschwunden wären und die äußeren Zwänge, dann würden auch all die anderen Zwänge von ihnen abfallen.

Keine Sorgen mehr um das Auskommen und das Einkommen. Keine Pflichten mehr gegenüber dem Trott des Alltags und kein Verzetteln mehr im täglichen Kleinklein.

Stattdessen Freiheit. Freiheit, das zu tun, was ihnen gut tat und ihnen Freude bereitete. Freiheit, den Tag anzufangen und zu füllen und zu beenden, wie sie es sich selber vorstellten.

Die Griechen gingen zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und baten ihn: „Herr, wir wollen Jesus sehen!“

Die Griechen hatten auch die Geschichten gehört, die man sich von diesem Jesus erzählte: „Erhat den Lazarus aus dem Grab gerufen und ihn von den Totenauferweckt!“

Sie hatten das gehört und ihre Sehnsucht war noch größer geworden. Nach einem, der sie frei machte. Frei von Krankheit und Tod und der Angst davor.

„Bleibt gesund!“ Das hatten sie denen gewünscht, von denen sie sich für ihre Reise verabschiedet hatten. Und die hatten ihnen gesagt: „Kommt gesund zurück!“

So viel konnte auf der Reise nach Jerusalem und durch das Leben geschehen. Sie konnten überfallen werden. Sie konnten sich irgendwo mit irgendeiner Krankheit anstecken. Sie konnten sterben.

Wenn sie doch von dieser Bedrohung frei wären. Dann müssten sie nicht jeden Tag leben als wäre es der letzte. Dann wäre ein Tag nur ein Tag und nicht der Rest des Lebens.

Sie waren dem Geheimnis und dem Heiligen ganz nah. Dort im Tempel. Dort, wo zu dem Gott gebetet wurde, der Freiheit schenkte. Dort, wo von Jesus erzählte wurde, der aus dem Tod rief.

Aber sie kamen im Tempel nur bis in den Vorhof. Sie waren Fremde. Sie durften nicht hinein ins Heiligen. Dort, wo ihre Sehnsüchte sich erfüllen würden, dort kamen sie nicht hin.

Aber Philippus. Der sprach ihre Sprache. Und der gehörte zu Jesus. Der konnte, der sollte ihnen den Weg bereiten zum Geheimnis, zum Ziel. „Herr, wir wollen Jesus sehen!“

Philippus hörte, was sie sagten. Erging zu Andreas und erzählte ihm vom Anliegen der Griechen. Dann gingen beide zu Jesus und berichteten es ihm.

Dort standen sie im Heiligen. An dem Ort, an dem sich alle Sehnsucht erfüllte. Hier fingen alle Geschichten von Gott an. Hier endeten sie auch. Wer die Nähe Gottes suchte und mal wieder spüren wollte, der kam hierher.

Dort sprachen sie mit dem Heiligen. Mit Jesus, der schon immer sein musste, wo Gott war. Und der schon immer Gott mit sich brachte, wenn er zu einem Menschen kam.

Sie berichteten Jesus also von den Griechen. Und Jesus antwortete ihnen: „Die Stunde ist gekommen! Jetzt wird der Menschensohn in seiner Herrlichkeit sichtbar!“

Philippus und Andreas nickten. So ging ihnen das oft mit Jesus. Sie kamen mit einer kleinen Angelegenheit und er antwortete ihnen mit einem Rätsel.

Es ging ihnen ja nicht anders als den Griechen. Sie waren zwar im Unterschied zu denen ganz nah dran am Heiligen. Aber auch sie blieben vom Geheimnis ausgeschlossen.

Manchmal meinten sie, jetzt hätten sie Jesus verstanden und wie er ihnen Gott und das Leben zeigte. Und im nächsten Augenblick schon trübte sich das Bild und sie standen wieder ganz am Anfang ihres Glaubens.

Jesus sagte: „Amen, amen, das sage ich euch: Das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben, sonst bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“

Das Bild verstanden sie. Auch das wurde ja beim Passahfest gefeiert. Das erste neue Getreide wurde in den Tempel gebracht. Neues Getreide, das gab es nur, wenn altes Getreide aufging.

Aber wovon sprach Jesus? Vielleicht sprach er von sich selber. Davon dass er sterben würde. Das hatte er schon öfter angedeutet. Er würde sterben, damit sie leben können.

Oder sprach Jesus ganz allgemein? Davon, dass das Vergehen zum Leben gehört. Dass altes Leben vergeht und neues Leben entsteht.

Wenn sie ehrlich waren, mochten sie weder das eine noch das andere hören. Wo Jesus war, war das Leben. Das hatte er doch auch selbst gesagt: Ich bin das Licht der Welt.

Ohne ihn wäre es dunkel in ihrem Leben. Mit ihm würde auch ein Teil von ihnen sterben. Und das konnte Jesus nicht wollen. Schließlich hatte er doch Lazarus aus dem Grab gerufen.

Jesus war doch ein Feind des Todes und gegen all das, was Tod brachte. Er öffnete doch Blinden die Augen und half Lahmen, aufzustehen. Er verweigerte sich doch dem Hass und verschrieb sich der Liebe. Jesus hielt doch das Leben fest.

Doch Jesus sagte: „Wem sein Leben über alles geht, der verliert es. Aber wer sein Leben in dieser Weltgering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben.“

Es durchfuhr Philippus und Andreas wie ein Blitz. Ein Bild, das vor ihnen aufschien. Eigentlich zwei Bilder, die ineinander überblendeten: Ein Kreuz auf einem Hügel. Ein Stein neben einer Grabeshöhle.

Schon war das Bild wieder verblasst. Aber es hinterließ ein Gefühl. Oder eigentlich zwei Gefühle, die ineinander übergingen. Traurigkeit, weil etwas zu Ende geht. Freude, weil etwas anfängt.

Ein Vers aus einem alten Pilgerlied fiel ihnen ein: Wer unter Tränen mit der Saat beginnt, wird unter Jubel die Ernte einbringen.

So ist das beim Säen, dachten Philippus und Andreas: Du musst die Saat aus der Hand geben und dann darauf vertrauen, dass etwas wächst. Und so ist das bei der Ernte: Du kannst einsammeln, was ohne dich gewachsen ist.

Und sie fragten sich: Ob das beim Leben auch so ist? Ob du auch so leben kannst? Das Leben nicht festhalten, sondern es aus der Hand geben. Damit es wachsen kann. Jetzt hier – und später dort.

So standen sie eine ganze Weile und Jesus war in seinem Reden längst bei einem anderen Thema. Da erst fielen ihnen wieder die Griechen ein.

Doch die hatten längst das Warten aufgegeben. Sie waren gegangen. Irgendwo in Jerusalem feierten sie jetzt die Freiheit und das Leben – oder wenigstens ihre Sehnsucht danach.

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