Kinder der Dämmerung


Wer von euch schon einmal auf dem Mond war, der weiß aus eigener Erfahrung: Dort wird es mit einem Schlag hell oder dunkel. Eben war noch Tag, jetzt ist Nacht. Eben war noch Finsternis, jetzt ist Licht.

Für die Erdlinge dagegen gibt es die Dämmerung. Zwischen Tag und Nacht breitet sie sich mal länger, mal kürzer aus. Die Finsternis kriecht langsam heran und schluckt das Licht. Der Tag bricht zaghaft an und vertreibt die Nacht.

Wir gehen davon aus, dass von euch keiner jemals auf dem Mond war. Und wir unterstellen, dass auch keine hinter dem Mond leben will. Dort, wo Licht und Dunkel wechseln, als würde man einen Schalter umlegen.

Wir leben dort, wo es reichlich Dämmerung gibt. Um diese Jahreszeit erleben wir sie oft am Esstisch. Während wir frühstücken, kommt das Tageslicht. Beim Abendbrot leuchtet kurz vor der Dunkelheit das Abendrot auf.

Es gibt Menschen, die ziehen morgens vor Tagesanbruch mit der Kamera los, um den Sonnenaufgang einzufangen und ihn dann auf Facebook oder Instagram zu teilen.

Und im Sommer ziehen Menschen abends mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein in den Westen der Insel an den Deich und schauen verliebt zu, wenn bei Utersum die rote Sonne im Meer versinkt.

Was wir sagen wollen: Die Dämmerung hat etwas Schönes an sich. Das Grau und die Farbenspiele, wenn Nacht und Tag, Dunkel und Licht wechseln.

Was wir gern wüssten: Ob Paulus – oder wer auch immer den Brief an die Gemeinde in Ephesus geschrieben hat – die Dämmerung auch mochte.

Ob er sich irgendwo in Kleinasien auf einen Hügel setzte und dem Licht dabei zusah, wie es langsam verschwand? Oder nach dem neuen Tag Ausschau hielt, der unaufhaltsam aufsteigen sollte?

Was wir sagen wollen: Jedenfalls was den Menschen an sich angeht, scheint es diesen Paulus keine Dämmerung zu geben. Da kennt er nur Tag oder Nacht, Finsternis oder Licht.

„Früher habt ihr zur Finsternis gehört. Aber jetzt seid ihr Licht, denn ihr gehört zum Herrn. Führt also euer Leben wie Kinder des Lichts!“ So steht es im Brief an die Gemeinde in Ephesus.

Das ist ein fröhlicher Wechsel. Es ist nur ein Schritt aus der Nacht in den Tag. Um vom Dunkel ins Licht zu kommen, muss nur der Schalter umgelegt werden.

Es ist im Leben eines Menschen wie am Anfang der Zeit. Das Leben war wüst und leer und Finsternis lag auf dem Leben. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.

Eben gehörst du noch zur Finsternis, jetzt gehörst du zum Licht. Eben stehst du noch in der dunklen Nacht, jetzt umgibt dich der helle Tag.

Die Apostelgeschichte erzählt das so von Paulus. Er ist kurz vor Damaskus, da umstrahlt ihn plötzlich ein Licht vom Himmel. Er stürzt zu Boden. Er steht wieder auf. Aber als er die Augen öffnet, kann er nichts sehen.

Nach drei Tagen erst fällt es ihm wie Schuppen von den Augen und er kann wieder sehen. Er lässt sich taufen. Früher hat er noch zur Finsternis gehört. Aber jetzt ist er Licht, denn er gehört zum Herrn.

Das ist Gnade. Das so zu erleben, ist Gnade. Du trittst aus deiner dunklen Kammer und kneifst die Augen zusammen, weil dich das Licht blendet. Dann öffnest du sie weit, um all die strahlenden Lebensfarben aufzunehmen.

Es gibt Menschen, die das so erleben. Die für sich eine Geschichte erzählen können, wie sie von Paulus erzählt wird. Die genau wissen, wann sich in ihrem Leben der Schalter umgelegt hat und es Licht wurde.

Das sind die Menschen, die tatsächlich schon einmal auf dem Mond waren, zumindest im übertragenen Sinn. Von jetzt auf gleich hat sich ihr Leben geändert. Mit einem Schritt sind sie aus dem Dunkel ins Licht getreten.

Wir beide waren nicht auf dem Mond. Weder wortwörtlich noch bildlich gesprochen. Wir beide gehören zu den Menschen, die mit der Dämmerung leben müssen.

Wir finden Paulus ja spannend. Aber näher ist uns der Mensch, dem Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem begegnet. „Ich will dir folgen, Herr!“, sagt er zu Jesus. „Doch erlaube mir, zuerst von meiner Familie Abschied zu nehmen.“

Und Jesus antwortet ihm und allen, die zuhören und mitlesen: „Wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der eignet sich nicht für das Reich Gottes.“

Darf der Mann nun Jesus nach Jerusalem folgen? Oder muss er zu Hause bleiben? Bleibt er nun in der Finsternis? Oder wird er ein Kind des Lichts und gehört zum Herrn?

Wie versteht ihr, was Jesus zu ihm sagt und zu allen die zuhören und mitlesen? Sagt Jesus: Du darfst mit! Oder sagt er: Bleib besser zu Hause! Oder bedeutet, was er sagt: Entscheide dich!

Wir stellen uns ja vor, dass es dämmert, als der Mann Jesus begegnet. Er stellt ihm seine Frage zwischen Nacht und Tag. Vielleicht ist es um sie grau. Vielleicht leuchtet es um sie auch leise rosa oder vorlaut orange.

Und irgendwie lässt Jesus den Mann in der Dämmerung stehen. Vielleicht tatsächlich, weil er sich umwendet und weiter nach Jerusalem geht. Bestimmt aber bildlich, weil offen bleibt, ob der Mann in die Finsternis oder ins Licht gehört.

Es mag sein, dass es daran hängt, wie der Mann sich entscheidet. Er kann sich aus der Dämmerung dem Dunkel zuwenden und dem Licht. Und dann muss er sich entscheiden, in welche Richtung er geht.

Doch wer weiß, ob er auch schnell genug gehen kann, um aus der Dämmerung ins Licht oder ins Dunkel zu kommen. Vielleicht ist es so, dass er immer dort bleibt, am Übergang zwischen Licht und Dunkel.

Vielleicht ist es so, dass Menschen nicht entweder der Finsternis gehören oder Kinder des Lichtes sind. Vielleicht sind sie, sind wir immer Kinder der Dämmerung.

In der Dämmerung kommt ja beides zusammen: Ich sehne mich nach dem Licht und fürchte mich vor dem Dunkel. Ich nehme Abschied von der Nacht und tauche in die Vorfreude auf den Tag ein.

Im meinem Leben kommt ja beides zusammen: Die Zeit, in der ich mich fern fühle von Gott. Eingehüllt in Zweifel, verunsichert von Leid. Und die Zeit, in der ich mich Gott nah fühle. Umfangen von Liebe, getragen von Zuversicht.

In der Dämmerung verbinden sich das Licht und das Dunkel, die Nacht und der Tag. Einerseits kann ich von den Dingen nur graue Umrisse wahrnehmen. Andererseits leuchten himmlische Farben.

In meinem Leben verbindet sich beides. Manches, was mir widerfährt, bleibt offen und unscharf. Anderes, das ich erlebe, glänzt hellblau und dunkelorange.

In der Dämmerung sind wir dazwischen. Zwischen Tag und Nacht. Zwischen Dunkel und Licht.

In der Dämmerung sind wir mittendrin. Im Leben. Im Segen.

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