Erste Kantate - Wer nur den lieben Gott lässt walten

Gelb leuchtet der Bund Osterglocken in seiner Hand. Es sind ihre Lieblingsblumen, die er im Garten gepflückt hat. Solange sie blühen, wird er ihr bei jedem Besuch einen kleinen Strauß mitbringen. Er ist sich sicher, dass sie sich freut.
„Jetzt wird Frühling“, sagte sie immer, wenn die ersten Osterglocken blühten. Jeden Tag ging sie in den Garten hinaus und stand vor der Blumenpracht. „Na, schaust du wieder den Blumen beim Wachsen zu?“, fragte er sie. Sie antwortete: „Nein, beim Blühen!“
Er bückt sich und nimmt den Strauß, den er ihr vorgestern gebracht hat, aus der grünen Steckvase. Er gießt das Wasser aus und holt am Hahn frisches. Er steckt die Vase in den Boden und stellt die neuen Blumen hinein. „Bis Morgen“, sagt er und wendet sich zum Gehen.
Die Kirchentür steht offen, wie jeden Tag. Als würde sie ihn bitten, doch hereinzukommen. Aber das Dunkel, das hinter der Tür auf ihn wartete, hat ihn immer abgeschreckt. Er hat die Kirche nicht mehr betreten seit dem Tag im letzten Sommer. Zu Erntedank war er nicht da. Da war nichts, wofür er danken konnte. Zu Weihnachten floh er zu seinen Kindern aufs Festland. Allein im leeren Haus mochte er da nicht sein. Selbst am Totensonntag kam er nicht zur Kirche, obwohl ihm der Pastor eine Einladung vorbei gebracht hatte.
Aber immer wieder sieht er sich dort sitzen, auf dem Stuhl in der Vierung. Er weiß noch genau, wie es sich anfühlte. Seltsam unwirklich kam es ihm vor: Die Menschen, deren Gesichter er kaum wahrnahm. Die Gestecke und das Blumenmeer vor ihm. Der Sarg, den seine Kinder für ihre Mutter ausgesucht hatten. Von ganz weit weg die Worte des Pastors.
Er geht an der Kirchentür vorbei. „Da singt jemand!“, durchfährt es ihn. Er bleibt stehen. Gedämpft nur hört er die Stimmen. Er geht durch den Eingang und betritt den Vorraum. In der Vierung stehen eine Frau und ein Mann. Sie trägt einen kleinen Rucksack, er hat einen Fotoapparat umgehängt. „Das müssen Urlauber sein“, denkt er, „welcher Einheimischer würde schon …“
Er will wieder gehen. Seine Hand greift nach der Tür zum Kirchenschiff. Leise schleicht er hinein und setzt sich in die vorletzte Bank.
Das Paar fängt ein nächstes Lied an. „Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit.“ Klar klingen ihre Stimmen. Sie füllen die ganze Kirche.
Er kennt das Lied. Seine Frau hatte es ausgesucht. „Ich möchte, dass das in der Kirche gesungen wird!“, hatte sie gesagt. Aber er konnte es an jenem Tag im vergangenen Sommer nicht singen. Starr blickte er damals in das Gesangbuch auf seinem Schoß. Fest hielt er seine Lippen zusammengepresst.
Er wollte nicht singen. Schon gar nicht vom lieben Gott. Der hatte sie ihm doch genommen. Der hatte doch nichts gemacht gegen diese böse Krankheit. Wo war Gott, als sie Schmerzen hatte und er nichts für sie tun konnte?
Jetzt hört er dieses Lied wieder. Er spürt, wie es in ihm selber widerhallt. „Gott, der sich uns hat auserwählt, der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.“ Er presst die Lippen zusammen, er will aufstehen und hinauslaufen. Die Tränen sind schneller. Er kann sie nicht aufhalten.
Das Paar hat aufgehört zu singen. Der Mann steht vor ihm. „Können wir Ihnen helfen?“ „Nein!“ Er schüttelt den Kopf. „Es tut gut zu weinen. Da habe ich schon lange drauf gewartet.“ Fast lächelt er, als er den Mann anschaut. „Sie könnten doch etwas tun: Singen Sie bitte weiter.“ „Das tun wir gern“, sagt der andere und geht zurück in die Vierung. Er schaut die Frau aan seiner Seite an. Gemeinsam stimmen sie an: „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen …“ Ganz leise summt der Mann in der vorletzten Bankreihe mit.

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